„Transit Europa“ von Volker Braun in den
Kammerspielen des DT Berlin, Uraufführung, Regie Friedo Solter
Sinn des Stücks kaum zu entziffern
Fast scheint es, als teste der Dramatiker Volker Braun mit seinem in den Kammerspielen in der Regie von Friedo Solter uraufgeführten Stück „Transit Europa" das derzeitige Kommunikationsvermögen des Publikums. Aber ich fürchte, es interessiert ihn gar nicht. Ich fürchte, er war zu sehr mit sich selbst und den Mühen befaßt, Anna Seghers' Roman „Transit", den er als Vorlage nutzte, dramaturgisch so aufzubereiten, daß eigene, zeitgenössisch-aktuelle Sichten in diesem prägnanten antifaschistischen Lebensstoff Platz finden.
Wohlwollende literaturwissenschaftliche
Akribie mag aus Brauns Text vielleicht eine Menge Bezüge und Absichten zutage
fördern. Im Theater jedoch zählt erbarmungslos das, was auf der Bühne schaubar
vorgeht. Wenn, wie Braun das bietet, menschliche Vereinsamung und
Beziehungslosigkeit, Lebensnot und Lebenslüge, Täuschung und Enttäuschung fortwährend
nur deklariert werden und die schauspielerischen Vorgänge zu Kürzeln, zu
Chiffren schrumpfen, vermögen dem letztlich nur noch Eingeweihte zu folgen.
Hier aber schien es, als ob nicht einmal Regisseur und Schauspieler dazu
zählen.
Anna Seghers gestaltete 1943 die
Übergangssituation, das scheinbar irreversibel Zuständliche, in Wahrheit
Vergängliche des antifaschistischen Exils in Frankreich. Sie konfrontiert einen
parteilosen deutschen Arbeiter, der auf der Flucht vor dem Faschismus nach
Marseille entkommen ist, mit einer kafkaesken Emigranten- und Börsenwelt.
Zufällig wird er mit einem toten Schriftsteller verwechselt. Das verschafft ihm
Papiere. Aber er benutzt sie nicht. Er sucht den Widerstand gegen die
Faschisten als Voraussetzung für Erneuerung. Sein „Transit" ist letztlich nicht
territorial, sondern politisch — ein Übergang zu revolutionärem Handeln.
Volker Braun folgt bis in die Figurenkonstellation
hinein dem vorgegebenen Sujet. Identitätstausch des entkommenen Seidel mit dem
toten antifaschistischen Schriftsteller Weiler. Zusammentreffen mit dessen Frau
Sophie und dem sie begleitenden Doktor. Dreieckskonflikt. Der Doktor begibt
sich schließlich mit Sophie auf ein Schiff. Seidel bleibt und geht in den
Widerstand. Das Schiff wird versenkt.
Die menschliche Substanz dieser
„Entwurzelten", ihre Not wie ihre Hoffnung, gibt Braun — obwohl punktuell
psychologisch genau — nun aber so fragmentisch, verzerrt, diffus und metaphernwirr,
daß sich theatralische Sinnfälligkeit einfach nicht herstellt.
Zumal Braun seine monologischen und
dialogischen Stenogramme mit zwar programmatisch gemeinten, heutige Sicht
einflechtenden, aber sich dem Kontext kaum fügenden Assoziationen und
Zwischenreden überfrachtet — in der Absicht, sinnbildhaft vor der Bedrohung des
menschlichen Lebens und der Natur, vor dem nuklearen Inferno zu warnen.
Ehrgeizige, hochachtbare literarische
Energien. Volker Braun findet für sie nur eine chaotische Form. Oder genauer:
Sie sprengen ihm jede Form. Und Friedo Solter war hier der szenische Zauberer
nicht, der den ambitiösen inhaltlichen Impetus und die offenbare formale Zerklüftetheit
dieses Texttorsos überzeugend zu bündeln vermochte.
Der allgemeine Spielraum, den Hans-Jürgen
Nikulka zur Verfügung stellt (weiße Vorhänge zu unwirtlichem Gemach gehängt, ein
Fenster im Hintergrund mit wechselndem Ausblick), und die Art der Pausen, das
zeremoniell-beiläufige Umstellen der wenigen Möbel und Requisiten durch die Darsteller,
lassen assoziative Absichten vermuten. Aber das von Szene zu Szene
befremdlichere Agieren bringt eher Verwirrung denn Aufhellung, bringt verschlungene
Gestikulation statt entziffernde Geste.
Für Momente prägen sich Darsteller ein, aber
keine Figuren, Empfindungen, nicht Haltungen — Verstörtheit, Empörung, Trostlosigkeit,
Aufbegehren bei Christian Grashof, Resignation und Einsamkeit bei Katja Paryla,
kapriziöse Sehnsüchte bei Katrin Klein, Egozentrizität bei Volkmar Kleinert,
distinguierte Betroffenheit bei Reimar Joh. Baur. Eine Figur dann doch: Rolf
Ludwig als ein Jude, den Angst und die Sehnsucht nach Geborgenheit ins
Verderben treiben.
Ein verlorener Abend? Ich finde nicht. Nur
die Bühnenpraxis widerlegt oder bestätigt den Dramatiker. Zur Premiere hielten sich
Bravo- und Buhrufe die Waage.
Neues
Deutschland, 4. Februar 1988