„Transit Europa“ von Volker Braun an den
Bühnen der Stadt Nordhausen, Regie Lutz Graf
Sensible Erkundung eines spröden Theaterstücks
Auch die Bühnen der Stadt Nordhausen haben
Volker Brauns Stückangebot „Transit Europa" ausprobiert. Nach der Uraufführung
an den Kammerspielen des Deutschen Theaters im Februar dieses Jahres hatte ich Zweifel
gehegt, ob mit diesem lakonisch-deklarierenden „Stenogramm überhaupt in
Kommunikation zu kommen sei. In Nordhausen gelang Oberspielleiter Lutz Graf und
seinem engagierten Ensemble, sich in wohlwollende Aufmerksamkeit des Publikums
zu spielen und dem Text theatralische Affinität zu bescheinigen.
Graf setzt die Zuschauer mit auf die Bühne.
Er holt sie fast hinein in die einen Ort am Meer assoziierende Dekoration von
Gastausstatter Holger Weißgerber. Und vor allem: Er bietet ihnen überwiegend
nachvollziehbare schauspielerische Vorgänge. Er läßt mit leicht zelebraler Note
gewissermaßen in Zeitlupe spielen. Dabei überzeichnet er nicht etwa zur
Karikatur. Seine Darsteller unterlegen Brauns gedankenkompakte Dialoge, von
Fall zu Fall geschickt pantomimisch verfremdet, so phantasievoll wie behutsam
mit mimetischem Spiel. Dergestalt begibt sich über elf szenische Stationen
tatsächlich eine Geschichte, fragmentarisch zwar, vielfach nur angedeutet, auch
fehldeutbar in Details — aber immerhin: eine Geschichte.
Hautnah für den Betrachter, ihn fast
körperlich berührend, entsteht die von Anna Seghers vorgegebene Situation des
Ausgeliefertseins, das Suchen, Warten, Irren, Hoffen, Zweifeln, Täuschen und
Enttäuschen in einer kafkaesken Emigranten- und Behördenwelt. Ein junger
Arbeiter, Seidel, Flüchtling aus dem faschistischen Deutschland, ist in
existentieller Not. In Marseille, wo er ein Visum zu bekommen hofft, findet er bei
einer liebebedürftigen Vermieterin eine vorläufige Bleibe. Widerwillig, lange
zaudernd, dann schließlich doch auf die Verwechslung eingehend, tauscht er
seine Identität mit dem antifaschistischen Schriftsteller Weiler, dessen
ehemaliges Zimmer er bewohnt. Und
er interessiert sich für dessen Frau Sophie, die in Gesellschaft eines Doktors
auf der Suche nach ihrem verschollenen Mann ist. Tragische Emigranten-Schicksale
beim Versuch, den Kontinent zu verlassen.
Problematisch für eine
Aufführung bleibt meines Erachtens Brauns Bestreben, der Seghers-Vorlage zu
einer aktuellen Dimension zu verhelfen. Kein noch so bemühtes Ensemble, fürchte
ich, vermag die in den Apercus verborgenen politischen und moralisch-ethischen
Botschaften kommunikativ zu theatralisieren. Zu viele sind da angesprochen,
aufgerissen, offengelassen.
Im Spiel der Nordhäuser verleiht der Gast
Peter-Mario Grau dem Seidel ausdruckskräftig die Konturen eines Heimatlosen. Nachempfindbar
seine Skrupel, das nicht für ihn bestimmte Visum anzunehmen, anrührend dann sein
irres Lachen, wenn er begreift, daß die Frau des Mannes vor ihm steht, mit
dessen Papieren er nun lebt. Überzeugend auch Barbara Frank (Wirtin), Anke Teickner
(Sophie), Jürgen Sebert (Doktor), Wolfgang Brumm (Jude) und Thomas Zieler
(Konsul). Die Inszenierung hat Stilwillen, hat Atmosphäre. Eine Arbeit ohne Zweifel,
die die Debatte um das Stück nicht abreißen lassen wird.
Neues
Deutschland, 26. Oktober 1988