„Transit Europa“ von Volker Braun an den
Bühnen der Stadt Magdeburg und am Maxim Gorki Theater Berlin, Regie Horst
Ruprecht und Rolf Winkelgrund
Spiel zwischen Ausweglosigkeit und Neubeginn
Nach der umstrittenen Uraufführung von Volker Brauns „Transit Europa" im Frühjahr 1988 im Deutschen Theater in Berlin war den Bühnen der Stadt Nordhausen ein dreiviertel Jahr später eine achtbare Ehrenrettung des Stückes gelungen. Jetzt ist das Stück an den Bühnen der Stadt Magdeburg und am Berliner Maxim Gorki Theater zu sehen. Der surrealistisch changierende Text hat offenbar etwas Verlockendes für Theatermacher. Dem Zuschauer — das läßt sich nach vier Inszenierungen sagen — erschließt er sich nur verschwommen.
Anna Seghers' Roman „Transit" aus dem
Jahre 1943, auf den sich Braun stützt, ist relativ überschaubar. Sie hatte Wert
darauf gelegt, daß ihr Buch „an eine einfache, klare Handlung geknüpft
ist." Nämlich: Zwei Männer kämpfen um eine Frau, aber die Frau liebt in
Wirklichkeit einen dritten Mann, der schon tot ist. Diesen Konflikt fügte die
Dichterin in eine außergewöhnliche soziale Situation: Auf der Flucht vor den
Faschisten bangen und streiten 1940 deutsche Emigranten in der französischen
Hafenstadt Marseille um ein Transitvisum.
Das Moment des Übergangs in sich verändernder
Welt, des existentiellen Zugzwangs zwischen Verharren in Ausweglosigkeit und
Entscheidung zum Neubeginn, wird gleichsam zur „Epochenmetapher". Seghers'
Hauptheld, ein Arbeiter, gerät durch eine Verwechslung „hinüber" in eine
andere Identität, die eines Antifaschisten, verzichtet auf Paß und Visum,
bleibt in Europa und geht in den Widerstand.
Auf diesem Hintergrund versuchte Volker Braun
1985 ein „helles, klares Lustspiel" zu schreiben mit „beschädigten, aber
tapferen, aufrechten Menschen". Das wäre ihm wahrscheinlich gelungen,
hätte er Seghers' Hinweis auf ihre Lehrer Balzac und Racine und deren Sinn für
einfache Handlungen beherzigt. Er aber wollte mehr. Dem, was bei der Seghers
der Vorstellungskraft des Lesers überlassen ist, wollte er zur Erscheinung
verhelfen und es aktuell bereichern.
Vorrangig bewegte ihn das „Transitäre unserer
Existenz". Er weitete das Geschehen in Raum und Zeit, bezog den politisch
sich befreienden Kontinent Afrika in seine Betrachtung ein und den Kommunismus,
das jahrtausendferne Ideal. Er berücksichtigte die akute Atomgefahr für die
Menschheit und die drohende Umweltkatastrophe. Und zugleich bedrängten ihn noch
immer all die Symptome von Verkrustung in unserem Land, die bereits sein
Schauspiel „Übergangsgesellschaft" geprägt hatten.
Eine Stoffülle, mit welcher das ohnehin
assoziationsreiche Thema Transit — dem sich übrigens in diesen Wochen neue
Aspekte hinzugesellen — schon damals schlicht und einfach überfordert war. Ein
auf Transparenz bedachter Dramatiker hätte dies gespürt. Aber Braun war —
jedenfalls hier — vor allem Lyriker. Seine Phantasie trieb ihn um zwischen
leidlichem Verfolg einer Fabel und anhaltender poetischer Agitation und
Meditation.
So muß denn jeder Regisseur, der sich mit dem
Text einläßt, vor allem dessen theatraler Kommunikation aufzuhelfen versuchen.
In Magdeburg arbeitete Horst Ruprecht handfest an der Anschaulichkeit. Wobei er
mit seiner Inszenierung, die im September entstand, ganz unmittelbar für
Reisefreiheit stritt: Der Zuschauer gelangt über Kellergänge mehrfach
kontrolliert und schließlich mit einem Visum-Stempel versehen auf ein in den
Saal der Kammerspiele gebautes Schiffsdeck (Ausstattung: Jochen Heite). Dort,
eng auf Bänken sitzend, wird er gleichsam Beteiligter, wird er Kronzeuge der
Emigrantenschicksale.
Ins Zentrum des Spiels rückt Sophie, die
junge Frau zwischen zwei Männern, dem Arbeiter Seidel und dem Doktor. Sie ist
auf der Suche nach dem dritten, nach Weiler, dem Geliebten, der schon tot ist —
was sie nicht weiß. In der Darstellung von Ute Loeck agiert eine vitale und
zugleich hochsensible Frau. Sie hat eine übermächtige Sehnsucht nach dem Mann,
mit dem sie kaum zusammen lebte und den sie dennoch in manischer Leidenschaft
sucht. Und sie hat eine laszive Neigung zu den Männern, die ihr helfen, ihre
Trostlosigkeit zu betäuben. Überzeugend auch Susanne Bard als resolute Wirtin
sowie Andreas Keller als Seidel, der sich seiner Verwechslung mit Weiler bewußt
wird.
Die Aufführung Ruprechts hat Drive, will
sagen: zügige Ereignishaftigkeit. Sie verliert sich nicht im Zelebralen, auch
nicht an das Ungefähre des Autors. Der Prolog beispielsweise, in dem vom
Selbstmord des Camerade die Rede ist, wird nicht anonym gesprochen, sondern an
den beinamputierten Weiler adressiert, der leibhaft auftritt. Dieserart werden
nachvollziehbar menschliche Beziehungen gespielt, meist ins Groteske getrieben,
so etwa, wenn sich — um die Mühsal der Annäherung zu zeigen — Sophie auf allen
vieren über einen kantigen Steg hin zu Seidel hangelt.
Vielleicht ist da manchmal auch zu viel
Spektakel. Das etwas spektakulär zum Motto gemachte Sprichwort indessen, das
„Sic transit gloria mundi" („So vergeht der Ruhm der Welt"), hat seit
Oktober fast täglich an Aktualität gewonnen.
In Berlin hat Rolf Winkelgrund Brauns
dichterisches Konglomerat mit ästhetischer Finesse in den Guckkasten und vor
einen gleißenden Meeresspiegel (Ausstattung: Henning Schaller) disponiert. Die Texte
läßt er — wie schon in Nordhausen erprobt — oft in pantomimisch verhaltener,
zeitlupig verzögerter Aktion servieren. Komik holt er geschickt meist von außen
heran, etwa, wo sich die Wirtin und ihr Gast Seidel artistisch beiläufig in
Liebeslust vergnügen. Böse-sarkastische Komik stiftet er mit einem getanzten
Faschismus-Stalinismus-Flirt (Tanzeinstudierung: Lothar Hanff). Aber Drive
stellt sich nicht her, so genau Figuren umrissen werden.
Anne-Else Paetzolds Sophie ist von
zerbrechlichem Wesen. Manchmal scheint sie Claudels Yse verwandt, dieser
anmutig Holden zwischen reiner Unschuld und diebischer Verworfenheit aus der
„Mitternachtsmesse". Gut bringt sie die leise, sich steigernde, bis ins
psychisch Kranke reichende Irritation. Daniel Minettis Seidel hat
holzschnittartige Konturen, Uwe Kockischs Doktor ist von subtiler gestischer
Präzision, ein witzboldartiger Egozentriker selbst in mißlicher Lage. Und
Swetlana Schönfeld gibt eine griesgrämig-verschlampte Wirtin, die auflebt,
sobald sie einen Mann zu fassen kriegt.
Nicht einmal der Autor gibt seinem Helden das
letzte Wort. Immerhin riskiert der sein Leben für Transit irgendwann in ein
besseres Europa. Winkelgrund arrangiert eine eindrucksvolle Schlußmetapher:
Sophie, die Liebende, inmitten der Männer (Spieler) hochgehoben wie ein Prinzip
Hoffnung. Wohlwollender Premierenbeifall.
Neues
Deutschland, 28. Dezember 1989