„Trainspotting“ von Harry Gibson an der Volksbühne Berlin, Regie Frank Castorf

 

 

 

Aus zerbrochener Seele

 

Das ist der Abend von Kathrin Angerer geworden. Die zarte kleine Schauspielerin hatte sich bei der Vorführung für die Fotografen den Fuß verletzt. Die Premieren-Defekt-Hexe der Saison hatte auch die Volksbühne ereilt. Aber Regisseur Frank Castorf ließ sich nicht erschüttern, er packte seine unglückliche Darstellerin ins Krankenbett und arrangierte seine Inszenierung um sie herum. Und die Angerer, diese offenbar wunderbar zähe, hübsche Kindfrau, spielte tapfer wie eine besessene kleine Teufelin nicht nur mit den Herren Hendrik Arnst, Peter René Lüdicke und Matthias Matschke, sondern herrlich lüstern auch noch mit der Bettdecke. Es schien, als sei alles a priori so aberwitzig verfremdet gemeint gewesen.

Ohnehin kam es Harry Gibson, dem Bearbeiter des Romans »Trainspotting« von Irvine Welsh, augenscheinlich gar nicht darauf an, eine Geschichte zu erzählen, als vielmehr darauf, Wirkung zu machen. Unter dem Motto »train spotting« (»Züge gucken«) fügte er effektvolle Ausschnitte der Handlung, dazu jede Menge Statements der Gestalten, zu einer losen Folge wüster Szenen. »Keine Macht den Drogen« wird scheinheilig gespottet und »auf welch beschissenem Planeten leben wir eigentlich?« bissig gefragt. Die vier Junkies, die die Frage stellen, werfen sie aus hohlem Bauch und zerbrochener Seele auf, schreien sie grimmig ins Publikum, das von Peter Schubert (Ausstattung) auf der Hinterbühne platziert ist wie in die Kulisse eines Bahnhofs. Über Ursachen der Sucht wird nicht nachgedacht. Es wird einfach als gegeben genommen, daß sich junge Leute heutzutage mit Rauschgift vollpumpen, um sich das Erlebnis einer »glücklichen Welt« zu verschaffen, das ihnen realiter verschlossen ist. Sie suggerieren sich eine irrsinnige Rechtfertigung: Die Droge raubt alle Illusionen und erzeugt nur eine einzige, nämlich die, zufrieden zu sein.

Castorf veranstaltet ein clowneskes Junkie-Fest. Einerseits schafft er Distanz zu den verzweifelten Menschen, die ihr elendes Dasein in der Sprache der Gosse herausschreien. Grotesk-Clowns scheinen sich über die Welt zu mokieren, in der sie keine Chance haben, in der sie nur mal »die Nadel probieren« wollten, von der sie dann nicht mehr losgekommen sind. Andererseits erzeugt Castorf Nähe. Plötzlich agieren da beklagenswerte Kreaturen, die ihr Leben - aus welchen Gründen auch immer - nicht gepackt haben. Und schließlich outen sich simple Schauspieler, die gegen ihren Text rebellieren, sich über sich und über Theater lustig machen.

Tiefsinn und Banalität, Aufschrei und Wehmut, unentwirrbar verknäuelt. Der roh brüllende Hendrik Arnst kreiert ein armseliges, dennoch irgendwie seltsam heiliges Pathos der Junkies. Peter René Lüdicke, meist als »Darmbakterie« kostümiert (Kostüme Kathrin Plath/Peter Schubert), liefert eine skurrile Variante, Matthias Matschke assistiert schrill, auch als marktschreierischer Dealer. Und immer wieder Kathrin Angerer als ein kack­naiv ordinär kreischendes und zappelndes Betthüpferl, das nach der Maxime lebt: Nimm deinen besten Orgasmus mal zwanzig, dann hast du in etwa das Gefühl, das dir ein guter Schuß verschafft.

Eine verlorene Generation - und keine Hoffnung. Die Volksbühne weist drastisch einmal wieder darauf hin.

 

 

 

Neues Deutschland, 28. April 1997