Heiner Müllers „Anatomie
Titus Fall of Rome“, vorgeführt vom theater 89 in Berlin Marzahn
Unser Zuhause
Tristesse in einer
ehemaligen Betriebs-Kantine. Verschlissenes Outfit, spärliche Beleuchtung, die Uhr
steht auf zehn nach zwölf. Als der Saal zur Werkzeugmaschinenfabrik Marzahn
gehörte, nahmen hier über 2000 Werktätige ihren Mittagstisch ein. Nach der
Wende fanden noch 320 Beschäftigte bei der Firma Knorr-Bremse Arbeit, aber die
Kantine bleibt verlassen. Verfall ist angesagt.
Jetzt ist neues Leben ins
Gemäuer eingezogen, eine kühne Truppe, zwanzig Teenager aus Berlin, mit dem
brennenden Ehrgeiz, Heiner Müllers Shakespearekommentar »Anatomie Titus
Fall of Rome« vorzuführen. Das theater 89, die renommierte kleine Bühne von
Berlin-Mitte, immer auf der Suche nach einer neuen, größeren Spielstätte, hat
sich den verkommenden Saal ausgeguckt und ihn mit Amateuren neu funktioniert.
An
der Stirnseite die vielsagende Inschrift »Unser Zuhause«. An beiden Seiten verstaubte
Stühle und Bänke, in der Mitte ein langgezogenes Spielpodest, vorn und hinten
weitere Plattformen. Die Zuschauer sind zahlreich, die Sitzplätze reichen
nicht, man sucht. Ab acht Uhr mischt sich eine dicke Putzfrau dazwischen, die
stoisch ihren Dienst tut. Das Spektakel beginnt.
Inszenator
ist Thomas Heise (Jahrgang 1955), Mitarbeiter von Heiner Müller,
leidenschaftlicher Dokfilmer, Regisseur von Müllers »Bau« 1996 im BE, nicht
unerfahren in der Theaterarbeit mit Jugendlichen. Er hat sie, das ist der
wesentlichste Eindruck des Abends, hervorragend motiviert. Mir imponiert, was
der 16jährige Daniel Volkmann zu seinem Spiel sagt: »Ich frage mich täglich,
wer ich bin, hier weiß ich es. Ich bin Demetrius, der Sohn der gotischen
Königin.«
In
der Moritat »Titus Andronicus« des jungen Shakespeare, geschrieben 1590, maßlos
in ihrer Blutrünstigkeit, sah Heiner Müller eine geeignete Vorlage für
zeitgenössisches Theater. Er behielt die Vorgänge bei, trat aber als
Urteilender dazwischen, enthüllte deren groteske Aberwitzigkeit. Die
Rachetragödie, die Liquidierung des Feldherrengeschlechts Titus, wird zu einem
kritischen Bericht vom Untergang Roms. Mit sarkastischer Komik verweist der
Autor auf die Aktualität der archaischen Barbarei.
Als Wolfgang
Engel das Stück 1987 in Dresden herausbrachte, agierten Schauspieler als
wissensdurstige Schüler, die das Stück in ihrem Klassenzimmer durchspielten.
Zur mehrfachen Verfremdung des Autors kam die der Regie. Ein Abend der
perfekten Profis. Jetzt in Marzahn sind Amateure am Werk, und all ihr
jugendfrischer Aktionismus kann nicht wettmachen, daß sie den Text sprecherisch
im Saal nicht behaupten können. So bleibt Müllers Kommentar und Shakespeares
Mord- und Totschlag-Geschichte eine Abfolge einfallsreicher, mit forciertem Tempo
heruntergespielter Events.
Wüste
Auseinandersetzungen zwischen Römern und Goten. Köpfe rollen. Gliedmaßen und
Torsos fliegen durch die Luft. Ermordeten quellen die Eingeweide aus dem Leib. Stümpfe
abgeschlagener Hände werden erhoben. Eine böse Intrige ist im Gange um Lavinia
(Lena Lauzemis), die Tochter von Titus. Tamora (Michaela Schmidt), die
Kaiserin, liebt den Schwarzen Aaron (Sven Behrendt), was schlimme Folgen hat.
Verblüffend
letztlich, mit welch spielerischer Hingabe die jungen Leute menschliche Greuel
als alltäglich abhandeln. Unser Zuhause eben.
„Neues Deutschland“ vom 14. Mai 1999