„Anatomie Titus Fall of Rome ein Shakespeare-Kommentar von Heiner Müller am Staatsschauspiel Dresden, Regie Wolfgang Engel

 

 

 

Klassische Moritat in aktueller Sicht

 

Die Farce „ANATOMIE TITUS FALL OF ROME EIN SHAKESPEAREKOMMENTAR" von Heiner Müller, in der Regie von Wolfgang Engel am Staatsschauspiel Dresden bei der DDR-Erstaufführung zu faszinierender Wirkung gebracht, entstand 1983/85. Sie wurde seinerzeit als Reaktion auf imperialistische Hochrüstungspolitik geschrieben. In der Moritat „Titus Andronicus" des jungen Shakespeare, maßlos in ihren Gräueln, geschrieben um 1590 als süperbe Abendunterhaltung, sah Heiner Müller eine geeignete Vorlage, um aktuelle Lebensproblematik assoziativ zu spiegeln und zu kommentieren. Die Analogie drängte sich auf.

Müller behält die Shakespeareschen Vorgänge bei, enthüllt aber ihren grotesk-aberwitzigen Zuschnitt und tritt nachhaltig als Urteilender dazwischen. Unter seiner Feder wird die nicht „aufhaltsame" Rachetragödie, die Liquidierung des Feldherrengeschlechts Titus, zu einem politisch-kritischen Bericht vom Untergang Roms, und zwar nicht als das Verhängnis allein rachsüchtig-triebhafter Motive, sondern gestellt in soziale Absichten und Bezüge.

Dabei setzt Müller einen engagierten Zeitgenossen als Zuschauer voraus. Mit sarkastischer Komik weist er auf archaische Barbarei, von der sich die Menschheit endlich verabschieden muß und auch kann. Auf den Punkt genau bedient der Regisseur Wolfgang Engel diesen ästhetischen Zugriff des Dramatikers. Nicht nur, daß er die gedankliche Dichte und Fülle des Textes mit einer außerordentlichen komödiantischen Phantasieleistung nachvollziehbar aufbereitet, seine Inszenierung lebt und pulsiert aus Zuversicht und Hoffnung.

Ein Klassenzimmer. An der Wand eine Bilderfolge, beginnend mit der Urgesellschaft, am Ende eine weiße, leere Fläche belassend (Ausstattung: Jens Büttner). Dergestalt signalisieren die Künstler a priori: Hier werden Angelegenheiten des Menschengeschlechts verhandelt — und noch zeichnet die Gegenwart am vorläufig letzten Bild.

Die Akteure betreten nach und nach den Raum. Schülerhaltungen deuten sie nur leise an, der bevorstehende historische Exkurs ist ihnen wichtiger. Sobald sie Platz genommen haben, sprechen sie chorisch den Expositionskommentar. Das machen sie mit solch atemberaubender Perfektion, daß sich der Zuschauer unversehens zu gespannter Aufmerksamkeit mitgerissen sieht. Sehr bald akzeptiert er, in welcher Weise ihm hier eine uralte, weit zu den römischen Mythen zurückreichende Geschichte in eine aktuelle theatralische Bedeutung geholt wird, und überrascht stellt er fest, daß sich daraus mit ästhetischem Genuß Erkenntnis gewinnen läßt.

Aus der angenommenen Spielsituation heraus agieren die Dresdner Darsteller brillant. Die von Vernichtung zu Vernichtung eilende Handlung verfremden sie mit außergewöhnlichem künstlerischen Können. Nur scheinbar wird mit Entsetzen Scherz getrieben, Tragödie und Farce durchdrängen sich, komische Zwischenspiele (ausgezeichnet Janina Hartwig als Clown) provozieren immer wieder befreiendes Lachen. Eine Meisterleistung der Regie wie der Schauspieler.

Christoph Hohmann gibt keinen greisen, sondern einen noch rüstigen, blind-kaisergläubigen salbadernden Titus Andronicus. Der in friedlichen Staatsangelegenheiten unfähige römische Feldherr hat die Goten besiegt und deren Königin Tamora nach Rom gebracht. Obwohl das römische Volk ihn zum Kaiser krönen will, schenkt er die Krone an Saturnin (Albrecht Goette), den erstgeborenen Sohn des toten Kaisers. Auch will er ihm seine Tochter Lavinia (Suheer Saleh) als Ehefrau zuführen, doch die weigert sich, weil sie Bassian (Thomas Förster) liebt, den Bruder Saturnins.

Tamora wird Königin, von Susanne Böwe als eine Schönheit von kalter, grausamer Leidenschaft gegeben. Aus Rache, daß Titus als Sühne für seine von den Goten getöteten Söhne einen ihrer Söhne opferte, stiftet Tamora ihren Geliebten, den Neger Aaron, an, Lavinia schänden und verstümmeln zu lassen. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Am Ende übt Lucius (Thomas Stecher), der letzte Sohn des Titus, grausame Rache. Römer und Goten metzeln sich nieder, Rom versinkt in Asche.

Aaron, eine zentrale Figur des Stückes, bei Shakespeare einfach ein verabscheuungswürdiges Ungeheuer, bekommt bei Müller eine soziale Perspektive. Gegenüber der an historischer Borniertheit zugrunde gehenden „Zivilisation" der Römer repräsentiert er die Ahnung einer neuen Welt. Joachim Nimtz gibt dem Aaron unaufdringlichen Stolz, Schärfe in der Intrige, wendige Kraft und hingebungsvolle Zuneigung zu seinem Sohn.

Das ist eine Aufführung am Ende der Spielzeit 1986/87, die die geistige Vitalität unseres Theaters, seine politische Problemhaltigkeit wie den Reichtum seiner differenzierten künstlerischen Mittel überaus eindrucksstark zur Anschauung bringt. Viel Beifall in Dresden.

 

 

Neues Deutschland, 24. Juli 1987