„Thyestes“ von Hugo Claus am Staatsschauspiel Stuttgart, Regie Stephan Kimmig

 

 

 

 

Wahnsinniger der Macht

 

Zum Auftakt: Ein herzig-liebes kleines Mädchen, auf den noch geschloss­enen Vorhang projiziert, singt kind­lich-naiv das Lied vom Vogel, der geflogen kommt. Unschuld der Kindheit, noch Hoff­nung auf Leben und Zukunft! Alsdann: Erbarmungslosigkeit auf der Szene, Ende al­len Hoffens! Senecas Entsetzens-Tragödie »Thyestes« begibt sich - der Fluch der Artriden in einer Bearbeitung des niederlän­dischen Dichters Hugo Claus in deutsch­sprachiger Erstaufführung (Gastspiel des Schauspiels vom Staatstheater Stuttgart zum Berliner Theatertreffen).

Da holt Atreus, König von Argos, seinen verbannten Bruder Thyestes nach Argos zurück, feiert scheinheilig Versöhnung und trägt ihm die Mitregentschaft an. Als­bald aber mordet er die Kinder des Thyes­tes. Und der, obwohl vorher äußert misstrauisch, ist plötzlich arglos, ahnt nichts vom Verbrechen, isst vom Fleisch, trinkt vom Blut seiner Kinder. Die grausigen Ta­ten des griechischen Mythos hat Regisseur Stephan Kimmig (Bühnenbild Katja Haß) als weltliche Zeremonie zwischen Agit­prop und Pop angerichtet, angereichert mit Videos vom offenen schlagenden Herzen sowie mit zuckendem nacktem Frau­enleib in fahlem Licht, pantomimisch-­akrobatischen Einlagen und Schreien des Entsetzens ins Mikrofon. Der Chor, demo­kratisches Element der antiken Tragödie, ist bei ihm reduziert auf eine Person (Eli­sabeth Findeis), sinnigerweise eine Re­porterin mit Laptop und Videokamera, al­lerdings nicht aufdringlich, eher auffällig zurückhaltend. Versuch rundum, nicht in Antike zu machen, auch nicht den Mythos zu verklären, sondern modern zu sein.

Dennoch: Kann Theater überhaupt noch wirken in diesen unseren von Terror gezeichneten Zeiten? Angesichts fürchter­licher Kriegsabenteuer der USA und des gnadenlosen, nicht enden wollenden Ge­metzels im Nahen Osten ist das grauen­hafte Verbrechen eines Scheusals griechi­scher Heldensage schwerlich noch bewe­gend, lediglich neuerliche fatale Bestäti­gung: Der Mensch - damals und noch im­mer - zerfleischt sich selbst!

Lucius Annäus Senecas (um 4 v.d.Z. bis 65 n.d.Z.) uralter Text über Hass, Gewalt und Mord - letztlich nichts anderes als menschliches Tun hinein projiziert ins Un­sägliche der Sagen - nahm schon damals jede Hoffnung auf Menschlichkeit. Zu Recht wird daher dieser Fall eines Wahn­sinnigen der Macht von der Regie mit ei­ner gewissen sarkastischen Sachlichkeit zelebriert, mit leiser Anteilnahme auch, doch vornehmlich mit einem lakonischen Gestus der Hoffnungslosigkeit, des Ausge­liefertseins angesichts des nun einmal Un­ausweichlichen. Der fatalistische Kreis­lauf dieser Welt: »Gewalt schafft Chaos, Ordnung schafft Gewalt!«

Der Stoff entzieht sich psychologischer Vertiefung. Wenn die Brüder Atreus und Thyestes Versöhnung feiern, führen das Ute Hannig und Michael Stiller drastisch so vor, dass sie mit den Händen Gebärden der Annäherung zeigen, mit den Füßen aber hasserfüllt symbolisch gegen die Schienbeine des Bruders treten. Das hat auffällige Momente des Simplen, ist dennoch beredt. Allerdings überzeugt die Be­setzung des Atreus mit einer Frau nicht; denn trotz der abscheulichen Nonchalan­ce, die Ute Hannig demonstriert, wird Weichheit und Wärme signalisiert statt Kantigkeit und Kälte. Dass sich der Thyestes des Michael Stiller am Tische des schrecklichen Mahls überzogen scherzboldig benimmt, spottet aller Psychologie. Hier bekommt die ansonsten angemes­sene Beiläufigkeit des Spiels, die übrigens auch Elmar Roloff als zaudernder Geist des Tantalos trefflich vorführt, einen falschen Touch ins schwankhaft Komische.

»Du hättest dasselbe getan«, sagt der bestialische Atreus zu Thyestes, als er dem geschockten Bruder die Köpfe und Hände seiner geschlachteten und zerstü­ckelten Kinder herbeibringen lässt. Und er sagt es mit der ölig-freundlichen Selbst­verständlichkeit, mit der uns Heutigen ge­legentlich Schreckliches aus Politik und Welt hinterbracht wird. Da läuft einem kalter Schauer über den Rücken ...

 

 

 

Neues Deutschland, 11./12. Mai 2002