Bemerkungen zu einer Theaterreise (III)
Schiller
und sein junger Regisseur
Als im Jahre 1764 Conrad Ekhof,
der »Vater der deutschen Schauspielkunst", in die Ackermannsche
Truppe eintrat, war der damals zwanzigjährige Friedrich Ludwig Schröder der reifen Schauspielkunst Ekhofs wenig geneigt. Das hinderte ihn jedoch nicht, hinter
den Kulissen Ekhofs Spiel zuzuschauen und von ihm zu
lernen. Und als Friedrich Ludwig Schröder um 1770 die Leitung des Hamburger Theaters übernahm, war
der einst skeptische Schüler bereits zum jungen Lehrmeister geworden. Die lebendige Tradition der erwachenden realistischen deutschen Schauspielkunst, hier hat sie ihre Wurzeln.
Seither
war Tradition in der Schauspielkunst immer
die lebendige Vermittlung des Handwerks, des von Generation zu Generation weiterentwickelten
Stilempfindens an den Nachwuchs, der sich, neben den Vorbildern gewachsen,
deren praktische Erfahrungen zu eigen
machte und sie gemäß dem Lebensgefühl seiner Zeit mit neuen Elementen bereicherte. So gab es in Deutschland neben der Theatermetropole Berlin
(Max Reinhardt) noch Theaterstädte wie München (Otto Falckenberg)
oder Düsseldorf (Louise Dumont), die Sammelpunkte
dieser organischen Entwicklung deutscher
Schauspielkunst waren.
Der Krieg und die Spaltung Deutschlands
haben diese lebendige Weitervermittlung unterbrochen. In
der Deutschen Demokratischen Republik kommt zu der
Verpflichtung, die Verbindung zum Erbe unserer realistischen Schauspielkunst wieder zu knüpfen, zugleich die Aufgabe, unter den
veränderten gesellschaftlichen Bedingungen eines Arbeiter- und Bauern-Staates in bewußter
Parteilichkeit an der Weiterentwicklung des Theaters zu arbeiten. In den
Theaterzentren Berlin, Leipzig und Dresden und an einigen anderen Theatern
ringen daher selbst erfahrene Regisseure, die jene lebendige deutsche Theatertradition verkörpern, um die
Neubelebung des Schillerschen Werkes. An mittleren und kleinen Bühnen
jedoch sehen wir uns der schwierigen
Situation gegenüber, bei relativ schwacher Verbindung zum
schauspielerischen Erbe mit überwiegend jungen Kräften ein Theater zu spielen, das zugleich bemüht ist, die Werke
der Klassik von den Schlacken bürgerlicher Fehlinterpretation zu befreien. Das ist eine schöne, aber schwere
Aufgabe. Sie zu lösen, haben wir im Großen und Ganzen erst zaghafte Schritte
unternommen. Es hieße Vogel-Strauß-Politik betreiben, wollten wir das
verkennen; denn wir kommen nur voran, wenn wir die Dinge real einschätzen
und nach Wegen suchen,
die nach vorn weisen.
Dazu gehört zunächst, vor einem falschen Weg zu
warnen: An mehreren Bühnen waren es junge, theaterbegeisterte Menschen, denen
eine Regieaufgabe anvertraut worden war. Doch diese jungen Regisseure hatten
eben nur in den wenigsten Fällen die
Möglichkeit — wie ehedem Friedrich
Ludwig Schröder —, einem bedeutenden Schauspieler oder Regisseur
zuzuschauen und von ihm zu lernen. So können sie sich nicht nach einem
praktischen Vorbild orientieren. Das
verleitet natürlich dazu, bar jeder Tradition und oft auch jedes
Stilwillens, ein Werk nach den eigenen Gedanken
zurechtzustutzen. Sie verfallen damit sehr leicht, wenn sie sich kein
Gefühl für Echtheit und Wahrheit auf der Bühne erhalten haben, einer anderen „Tradition", nämlich der — nun ja,
sagen wir es offen, der Gefahr des Verschmierens. Damit erklärt sich, daß mancherorts das
dichterische Wort mißachtet
wird, kaum das Bemühen besteht, echte Partnerbeziehungen auf der Bühne herzustellen, und daß
man zufrieden ist, wenn das laute, effektvolle Herunterrasseln der
Satzfolgen, das über den Sinngehalt der Worte hinwegjagt,
allerhand Wirkung im geduldigen Zuschauerraum hinterläßt.
Daß das nichts mit Pathos zu tun hat, sieht man allerdings
zumeist ein. Diese Manier, Leidenschaft in Fetzen zu reißen, „übertyrannt den Tyrannen" und ist eine gefährliche
Verirrung. Sie muß so lange verurteilt und die Regisseure darauf aufmerksam gemacht werden, solange noch wie in Zeitz eine vor
lauter leerer Leidenschaft berstende Königin Isabeau
dem „Parterre in die Ohren donnert".
Wo
aber bieten sich Ansatzpunkte für einen jungen Regisseur, der kaum die Möglichkeit hat, sich nach einem lebendigen
Vorbild zu orientieren, und dessen Intendant
selbst noch ein suchender, um das
Handwerk ringender junger Künstler ist? Ein gangbarer Weg — wohl der
einzige — ist der, erst einmal aus unserem
Lebensgefühl heraus glaubhafte
menschliche Beziehungen auf der Bühne herzustellen, das gesunde Empfinden des Schauspielers in der Szene zu
wecken und vor allem erst einmal die
Handlung des Stückes szenisch wahr
umzusetzen, also z. B. die Akteure sich nicht anschreien zu lassen, wenn
der konkrete Text einen gedämpften Dialog
verlangt. Überall dort, wo diese schauspielerische Grundlage fehlt —
Stanislawski nannte sie die Linie der physischen Handlungen, und allen
erfahrenen Regisseuren ist sie seit jeher
die selbstverständliche, unabdingbare
handwerkliche Grundlage —, muß der
Versuch scheitern, das Lebensgefühl und den
Rhythmus eines Schiller-Werkes zu erreichen.
Die Inszenierung der „Räuber" in Erfurt durch Hans
Dieter Made hat diese Grundlage. Es wurde
versucht, jede Beziehung der
Charaktere plastisch und rund auszuspielen. Natürlich erinnert das
hartnäckige Aufspüren der Zusammenhänge, das
breite, zerdehnende Sichtbarmachen kleinster Aktionen, das Agieren der
Figuren am Faden der klar abgesteckten Handlung, natürlich erinnert das alles zunächst einmal eher an Tschechow oder Hauptmann als an Schiller. Aber echtes Empfinden, ganz einfach „Wahrheit auf der Bühne" ist auch
für Schiller der Ausgangspunkt, und das ist die Linie der physischen Handlungen in jedem Falle. Ist sie gefunden, ist viel
erreicht, aber noch sehr viel bleibt zu tun. Ein junger Regisseur, der
erst einmal eine derart breit ausgefeilte
Klassiker-Inszenierung auf die Bretter gestellt hat, wird beim nächsten
Mal schon stärker darauf achten, daß er die Handlung,
die er gefunden hat, nun so weit rafft, so weit auf die typische und damit knappste, prägnanteste Handlung
konzentriert, daß er den Rhythmus und damit auch den
Stil des Stückes immer besser erfaßt. Und seine
Schauspieler, deren Gefühl echt und wahr
aufgeschlossen ist, werden viel leichter der Bildkraft jedes einzelnen
Wortes, jeder Satzfolge, jedes Verses nachspüren und Wort und Gebärde zu einer Einheit verschmelzen können. Das
scheint mir der Weg, um von unserem
kühl-verstandesbetonten Zeitgefühl
zum heiß-gefühlsbetonten Lebensgefühl Schillerscher
Charaktere zu kommen.
Freilich
kann man diesen Weg auch mißverstehen. Eine physische Handlung ist niemals
Selbstzweck. Sobald auf der Bühne
Handlungen konstruiert werden, die
nicht aus dem konkreten Wort des Dichters hervorgehen, belastet man die
Inszenierung mit langweiligen „Handlungslöchern".
Da spaziert zum Beispiel in der Aufführung der „Räuber" an den
Landesbühnen Sachsen x-mal der Diener auf der Bühne herum, obwohl der Dichter
davon nichts gesagt hat, oder man trägt den toten Kosinsky
über die Bühne, obwohl auch hierüber der
Dichter sicher höchst verwundert
wäre. Werner Dissel versteht Schauspieler zu
führen, aber hier hat er, anstatt die ausgespielten
Handlungsbögen zu raffen, noch überflüssige Mätzchen angehängt.
Das sind Irrtümer, denen ein nach Wahrheit
auf der Bühne trachtender Regisseur verfallen mag. Besser ist es, ihn vor derartigen unnötigen Fehlern zu
bewahren. Daher sind die zwischen einigen
Theatern abgeschlossenen Patenschaftsverträge
eine recht gute Sache. Das Deutsche Theater Berlin zum Beispiel hat mit dem Stadttheater Senftenberg einen
solchen Vertrag abgeschlossen, der u. a.
den Austausch von Regisseuren vorsieht. Im Rahmen dieses Vertrages hat
Horst Schönemann
die Regie zu Schillers „Fiesco"
übernommen. Der Erfolg des jungen,
am lebendigen Vorbild geschulten
Regisseurs ist augenscheinlich. Hier findet man bereits eine straffe und
prägnante, auf das Wesentliche
konzentrierte Durchgestaltung von Gestik und
Ton. Eine andere, in diesem Rahmen nicht zu
behandelnde Frage ist die, daß in Senftenberg
das Ensemble zu jung ist und daher einige Schauspieler überfordert werden
müssen. Die Aufführung zeigt jedoch die
stilbildende Handschrift eines ideologisch klar denkenden und handwerklich geschulten Regisseurs. Neben
diesem Vertrag bestehen bereits Patenschaftsverträge
des Berliner Ensembles am Schiffbauerdamm
mit dem Elbe-Elster-Theater
Wittenberg, der Städtischen Bühnen
Leipzig mit dem Kreistheater Borna und der Staatstheater Dresden mit
dem Stadttheater Meißen. Aber das genügt
natürlich nicht. Es sollte die Möglichkeit geben,
talentierte junge Regisseure nach Berlin zu
holen und dafür Regieassistenten unserer besten Regisseure für ein oder
zwei Jahre an das betreffende Theater zu
senden. Welcher blutvolle junge
Theaterschaffende leistet nicht gern Pionierarbeit?
SONNTAG,
13. November 1955