Bemerkungen zu einer Theaterreise (II)

 

 

Vom handwerklichen Können zu künstlerischer Meisterschaft

 

 

Auf einer „Theaterernte" sollte man logischerweise zeigen, was sich während einer  Spielzeit als reif erwiesen hat, in Berlin einer kritischen Öffentlichkeit zur Diskussion gestellt zu    werden. Damit würde eine solche Ernte — ohne die Theater zu überfordern — über den Stand  der Schauspielkunst in unserer Republik einen gültigen Überblick vermitteln. Sie wäre zugleich  Ansporn für die Theaterleiter, die künstlerischen Kräfte im Laufe der Spielzeit zu einem echten, bewußten Ensemble zusammen­zuschließen, das entsprechend den ört­lichen Gegebenheiten künstlerisch ausgewogene Aufführungen gewährleistet.

Die Theaterernte droht jedoch Sinn und Zweck zu verlieren, sie wird zur bloßen Schau, wenn sie nicht „Ernte" am Ende, sondern „Suche" zu Beginn einer Spielzeit ist. Wenn nun obendrein für eine solche Schau nur Schiller-Inszenierungen vorgesehen sind, dann wird der reale Stand der Schauspiel­kunst in unserer Republik wohl kaum sichtbar werden können; denn welchen Schwierigkeiten kleine und kleinste, teilweise aber auch größere Theater bei der Aufführung eines Schiller-Werkes heute noch gegenüberstehen, müßte den Intendanten eigentlich bekannt sein. Es bleibt daher unverständlich, weshalb sie auf ihrer letzten Tagung beschlos­sen haben, nur Schiller-Inszenierungen auszuwählen; es sei denn, um damit die Diskussion über die Inszenierungs­methoden voranzubringen. Doch das ginge mehr die Fachleute und weniger die breite Öffentlichkeit an.

Es wird also in diesem Jahr keine Theaterernte, sondern nur eine Theaterschau geben, und zwar eine Schau von mehr oder weniger aus­gegorenen Schiller- Inszenierungen. Darum muß schon jetzt die Forderung erhoben werden, am Ende der laufen­den Spielzeit nun einmal eine echte Theaterernte durchzuführen. Zweifel­los wird dazu nötig sein, daß auch die Presse die Theaterarbeit in der Re­publik gewissenhafter verfolgt, so daß am Ende des Spieljahres aus der Viel­zahl der Aufführungen wirklich das Beste und Gültige ausgewählt werden kann. Deshalb war die Rundreise mit der Kommission, die die für November geplante Theaterschau vorbereitet, in mancherlei Hinsicht sehr aufschluß­reich. Der entscheidende Eindruck ist — wie schon im SONNTAG Nr. 41 be­merkt —: es mangelt an erfahrenen, ideenreichen Regisseuren.

Natürlich geschieht es meist an klei­neren Theatern, daß junge Regisseure Aufgaben übernehmen, denen sie nicht immer gewachsen sind. Das führt mit­unter so weit, daß an das künstlerische Verantwortungsbewußtsein des Inten­danten appelliert werden muß, einen Klassiker nicht aufzuführen, wenn die regielichen oder schauspielerischen Vor­aussetzungen nicht gegeben sind. Grundbedingung ist doch wohl, daß trotz notwendiger Striche die Fabel er­halten und die Entwicklung der Cha­raktere verständlich bleibt. Wenn aber — wie in Crimmitschau beim „Don Car­los" (Regie Siegfried Meyer) — vom Re­gisseur erhebliche Kürzungen vor­genommen werden, nur weil der be­treffende Schauspieler mit dem Text nicht zurechtkommt, dann muß das be­denklich stimmen; denn so etwas äußert sich natürlich in der Aufführung. Die Schauspieler haben, da ihnen die Handlungsbögen durch die Striche verstüm­melt oder ganz genommen sind, einfach keine Möglichkeit zu echter Gestaltung. Von Schiller bleibt nicht viel übrig.

Weit mehr Aufführungen jedoch trifft man an, bei denen logisch gestrichen ist und die Beziehungen der Charaktere nicht zerrissen sind, das Werk also im wesentlichen verstanden wurde. In sol­chen Fällen sind dann meist auch die schauspielerische Handlung und die sprachliche Gestaltung richtig angelegt; es sind sozusagen die ersten Ansätze einer der konkreten Szene angemesse­nen physischen Handlung gefunden. Doch das Vermögen der Regisseure reicht nicht immer, die Schau­spieler von diesen Ansätzen zur Ent­faltung ihres ganzen Könnens zu führen. Derartige Ansätze sind zweifellos in der Altenburger „Kabale und Liebe"-Aufführung (Regie Erich Brauer) und in der Meißner Aufführung der „Räuber" (Regie Hanns Malz). Aber das genügt natürlich nicht; denn hier muß der Zu­schauer die Figuren durch das Abhören des Textes zu begreifen suchen, anstatt daß er Charaktere erleben kann.

Hat jedoch ein erfahrener Praktiker Regie gefühlt — wie in der Zittauer „Don Carlos"-Inszenierung (Regie Her­bert Korbs) —, dann ist zumeist eine gültige Linie der physischen Handlun­gen gefunden, und es stehen Charaktere auf der Bühne. Nun hängt es von der schauspielerischen Kraft des einzelnen Akteurs ab, über diese gültige Linie hin­aus zu tiefer, ergreifender Menschen­formung zu kommen, das heißt, der Rolle die Lichter des individuellen, einmaligen Könnens aufzustecken.

Das war in Leipzig zu erleben. Auch hier führte ein Praktiker Regie: Jo­hannes Arpe inszenierte „Wilhelm Tell". Ein Regisseur, der seine ganze Aufmerksamkeit der Versgestaltung widmete und der im Übrigen eine recht strenge Stellungs-Regie pflegte. Das droht nun freilich manchmal etwas zu vordergründig-offensichtlich zu werden, vor allem dann, wenn die Schauspieler die aufgeprägte Aktion nicht ganz mit Leben zu füllen vermögen, wie etwa Marianne Schilling als Bertha. Man ist sich zudem auch in Leipzig darüber klar, daß einige Rollen nicht die glück­lichste Besetzung gefunden haben. Trotzdem ist diese Aufführung wohl eine der gelungensten Tell-Inszenierun­gen seit langem. Es entsteht, und das ist das große Plus, keine Trennung zwischen Tell und dem Volk. Im Gegen­teil, Tell wird zum Rächer des Volkes. Das gelingt vor allem durch die über­ragende schauspielerische Leistung Carl Brunos als Wilhelm Tell. W i e die­ser Tell vor dem Apfelschuß ansetzt, seine Armbrust zu spannen, und wiedieser Tell vor dem Landvogt nieder­kniet, ringend zwischen Empörung gegen den Unterdrücker und Liebe für sein Kind, das zwingt den Zuschauer, indem es zutiefst erschüttert, Partei zu ergreifen.

In Leipzig wurde offenbar, wie not­wendig es ist, daß sich junge Regisseure konsequenter und beharrlicher mit dem Regie-Handwerk vertraut machen. Es nützt einem Nachwuchsregisseur nicht einen Deut zu wissen, welche ideolo­gische Position König Philipp II. in der konkreten gesellschaftlichen Situation eingenommen hat, wenn er dem Dar­steller keine plastische Vorstellung ver­mitteln kann, wie Philipp II. geht oder steht: wie ein König oder wie ein Reit­knecht.

Allerdings muß der Regisseur auch eine richtige ideologische Konzeption haben; sonst passiert's wie in Dresden-Radebeul (Regie Werner Dissel), wo offensichtlich vergessen wurde, daß Schillers „Räuber" ja „in Tyrannos" geschrieben sind und immerhin zum Sturm und Drang gehören. So Stander zwar recht gut profilierte Charaktere auf der Bühne, aber leider nicht die Schillers.

Der Sinn einer Theaterschau von Schiller-Inszenierungen kann nur darin liegen, daß an Hand der konkreten Auf­führungen Methoden einer realistischen Regiekunst erläutert und darüber hin­aus Wege gewiesen werden, talentierten Nachwuchsregisseuren eine allseitige Ausbildungsmöglichkeit zu schaffen.
Handwerkliches Können muß die Devise lauten! Insofern könnte die Theaterschau ein Auftakt für die Spiel­zeit und für eine kommende Theater­ernte werden.

 

SONNTAG, 23. Oktober 1955