Gedanken
zu einer Theaterreise
„…aber den
Einsichtsvollen muß es verdrießen“ (Hamlet)
Anläßlich einer Theater-Rundfahrt durch die Republik hatte ich
Gelegenheit, einige Schiller-Inszenierungen zu besuchen. Noch ist diese Reise nicht beendet und der bisher
gewonnene Überblick demzufolge
unvollständig. Trotzdem zeichnen
sich bereits zwei Dinge klar ab: Zum einen wurde offenbar, was man auch in der Republik verlangen
kann und muß, und zum anderen wurde deutlich, worin Mängel der Theaterarbeit liegen.
In Neustrelitz sah ich eine saubere und ehrliche
Inszenierung von „Wilhelm Tell" (Regie Konrad
Gericke), in Dessau eine
sehr profilierte Aufführung des „Demetrius"-Fragmentes
(Regie Erich Werder) und in Potsdam
eine recht klare Inszenierung der „Räuber" (Regie Kurt Rabe). Diese Inszenierungen bilden den
Maßstab für die Beurteilung.
Deshalb muß bedenklich stimmen,
was
in Halle und Stralsund zu sehen war. Wie konnte es geschehen, daß in Halle ein
deklamierender Ferdinand sich theatralisch an eine Säule klammert und in Stralsund ein affektierter Franz Moor vor dem gezückten Degen der Amalia entwetzt und
sich schließlich auf offener Bühne eigenhändig erdrosselt?
Was wir da sahen, konnte geschehen, weil
die Regisseure kaum Regie führten, sondern die Dinge laufen ließen, und weil sie kein Gehör hatten für sprachliche Gestaltung. Die Stralsunder Aufführung der „Räuber" (Regie Horst Westphal) erhellte am stärksten diese Mängel. Die Regie hatte auch nicht eine Handlungslinie zu führen vermocht, ja eher sogar durch ungeschickte Striche sich selbst jede Möglichkeit dazu genommen. In der zweiten Szene (Schenke) wurde weder Spiegelbergs Bemühen um die Bande szenisch und sprachlich evident, noch die Entwicklung Karls vom Aufbegehrenden bis zum verzweifelt zur Tat Schreitenden. Stattdessen holperte der Karl seine Sätze ohne klaren Aufbau der Rede herunter und gebärdete sich je nach Bedarf
um der Stimmwirkung willen laut und wild.
Der Franz gefiel sich in diabolisch
sein sollender, konventioneller Theatergestik;
die Arme unmotiviert nach allen
Himmelsrichtungen spreizend,
leierte er seine Sätze ohne Empfinden
daher. Alle Figuren agierten in solcher
äußerlichen Theatermanier, weil die
Regie nicht von dem ausging, was
wirklich und tatsächlich bei Schiller
steht, sondern stattdessen eine „Konzeption"
umzusetzen suchte. Nichts gegen
Konzeptionen, aber das sah hier so
aus, daß z. B. in der Schenken-Szene bloß
unterschiedliche Kleidung Klassenzugehörigkeiten
deutlich machen sollte. Im Übrigen bemühte
man sich, in dieser Szene die
„Notwendigkeit" zu demonstrieren, die diese Menschen zur Räuberbande
treibt. Man versuchte also, von außen Gedanken in das Stück hineinzutragen und
endete in völliger Äußerlichkeit, anstatt den Schillerschen
Gedanken nachzuspüren und damit zu innerem Empfinden zu kommen.
Heinrich
Laube schrieb schon 1843 im „Leipziger Tageblatt": „Des Schauspielers
erste Sorge ist, daß der Zuschauer alles verstehe,
die zweite Sorge, daß der Zuschauer den Gedanken als
abgerundetes Bild erhalte." Ist das immer die
erste und die zweite Sorge unserer Schauspieler und Regisseure? In Stralsund
hatte nicht einmal der Schauspieler den Gedanken als abgerundetes Bild erfaßt! Wie sollte ihn da der Zuschauer erhalten?
Die Aufführung von „Kabale und Liebe" in Halle
(Regie Kurt Elgner) weist
leider ähnliche Schwächen auf. Gewiß geben
Walter Kröter seinem Hofmarschall und Gertrud Bergmann ihrer Millerin
einigermaßen Profil. Aber es fehlt
ihnen wie den übrigen jene klarsichtige, exakte Gestaltung, die eine Figur aus
dem Bereich des unabdingbaren Handwerks herausführt zu überzeugender
Menschendarstellung. Die Regie baute keine physische Handlung von Gedanken zu
Gedanken, sondern sie war zufrieden, wenn der Text gelernt war und aufgesagt wurde.
Diese Aufsage-Schauspieler erreichen in
ihrer Manier —
unkontrolliert von der Regie — oft hast du nicht gesehen
schwindelerregende Geschwindigkeiten. Sie jagen über den Gedankenreichtum
ihrer Rollen hinweg, daß es eine Art hat. Und anstatt
bei diesem schnellen Sprechen wenigstens die
ohnehin schon mangelhafte Deutlichkeit
zu wahren, werden sie unverständlich,
weil sie Konsonanten verschleifen,
ganze Silben verschlucken und sich keine Zeit lassen, die Vokale zu
füllen. Pausen sind bei ihnen selten wie kostbare Perlen. Und nahezu ausgestorben sind in wissender Einsicht gesetzte
und durchlebte Pausen. Die meisten Aufsager siedeln sich lieber auf einem ihnen passenden Ton
an und behaupten ihn, als gelte es zu demonstrieren,
wie leicht man sich jede Ausdrucksmöglichkeit
nehmen kann.
Auch
der Franz Moor der Potsdamer Aufführung —
sonst eine überzeugende Leistung —
hat sprachliche Mängel. Hannjo Hasse gibt
einen kalt berechnenden, trockenen und spröden Franz, und nur manchmal
schnellt er mitten im Vokal fast heiser und etwas plärrend in die Höhe. Ärger empfindet man sprachliche Mängel bei Kurt Schmitt-Mainz als Karl. Er zerrt und
schindet die Vokale in einer singenden und gellenden Deklamation derart, daß
er bei Gefühlsausbrüchen nahezu unerträglich wird. Bei ihm hätte die
Regie Kurt Rabes erheblich mildern müssen, wohingegen die Amalia
Irma Münchs mehr Kraft und
überzeugende Leidenschaft durchaus vertragen hätte. Das Erfreuliche der Potsdamer Inszenierung ist die übersichtliche
Anlage der Charaktere. Man vermag ihrer
Entwicklung zu folgen und versteht —
so naiv das klingen mag —, was
gespielt wird.
Man
versteht das auch in Neustrelitz. Erfreulich gleich das erste Bühnenbild: Heller Sonnenschein liegt über den lichten Felsen der Schweiz, im Vordergrund arbeitet ein Fischer an seinen Netzen,
das Geläut der Herdenglocken paart sich mit
dem Gesang des Fischerknaben. Sofort wird eine
echte, stimmungsvolle Atmosphäre
gezaubert. Der Regisseur Konrad
Gericke hat seine Schauspieler
umsichtig geführt. Es gibt kaum eine
theatralische Deklamation, sondern echtes Gefühl, glaubhafte Handlung und organisches Sprechen, das allerdings
auch hier an der mangelhaften
Technik der Schauspieler krankt. Man
erlebte einen ruhigen, selbstsicheren
Stauffacher (Helmut Göttig),
eine warm-mütterliche und gefühlswahre Hedwig
(Henny Müller), eine sehr junge, aber doch echt erschütternde Armgard (Helga Jordan)
und einen selbstbewußten und klugen Rudens
(Manfred Heine). Der Landvogt Carl
Gert Zinsers, sehr plastisch in seiner gefährlichen Ruhe und Überlegenheit, enttäuscht leider durch seine eigenwillige Sprechmanier, und Konrad Gerickes Attinghausen entbehrt manchmal etwas
der adligen Würde. Werner Bortzs Tell geriet
ein wenig zu beschaulich ichbezogen.
Dies wurde, verstärkt durch unglückliche
Striche in der Küßnacht-Szene. Man sollte dem Tell die Zeit lassen,
seine Tat vorzubereiten.
Es
wird nun auf der weiteren Reise zu
beobachten sein, ob sich der erste Eindruck
bestätigt, daß nämlich Regie und Sprache Brennpunkte
unserer Theatersituation sind.
SONNTAG, 9. Oktober
1955