„Wilhelm Tell“ von Friedrich Schiller am Maxim Gorki Theater Berlin,
Regie Marcus Mislin
Vom Gully zum Rütli
Friedrich Schillers wackere Schweizer aus »Wilhelm Tell« Revolutionäre? Das Berliner Maxim Gorki Theater, derzeit im Bühnenhaus des Schiller-Theaters spielend, zeigt jetzt einen Stück-Torso, mit dem es vorführen möchte, »wie ein Bergvolk zufälligerweise zu Revolutionären wird«.
Theater darf unbekümmert mit hinlänglich strapazierten und von der Geschichte
in Frage gestellten Begriffen umgehen. Auch muss es nicht klüger sein wollen
als die Politik. Aber in eigener Sache, also im ästhetischen Sinne, sollte es schon
seriös sein wollen, zumindest nicht provinziell.
Marcus Mislin fertigte eine Collage aus Texten vornehmlich von Schiller
sowie von Jakob Bührer und Samuel Henzis. Die Personnage strich er aufs
heutzutage zugelassene ökonomische Limit zusammen und minimierte damit den Ruf
eines unterdrückten Volkes nach Freiheit auf die führenden Hanseln vom Dienst.
Die gemütlichen Werner und Gertrud Stauffacher, der eifrige Arnold vom
Melchthal und der ängstliche Walter Fürst stehen für Landsleut' aus der Schwyz,
Uri und Unterwalden, die unverhofft ins Schicksal geraten. Letztlich scheut man
sich nicht, aus Gullys auf zum Rütli zu steigen.
Revolutionäre hin, Rebellen her, Tyrannen-Mörder hoch, Besatzer nieder
- was Schiller sorgfältig wägte und motivisch absicherte, kommt daher wie eine
salopp politisierende Soap-Opera. Spaßig findet das möglicherweise der, der
keine literarischen Ansprüche stellt. Das Unternehmen ist geeignet, deutsche
Klassik zu verleiden. In der Pause lichten sich denn auch Zuschauerreihen.
Spaß? Sofern man sich damit abfindet, dass Schiller
benutzt wird, um aus heutiger leger-überlegener Sicht Zugzwänge eines Volkes
Anfang des 14. Jahrhunderts zur zeitgenössischen Farce zu relativieren. Wobei
man den Machern zugute halten muss, dass des Dichters hehrer, gläubiger
Idealismus in der Tat nur noch mit äußerster Anstrengung rüberzubringen wäre.
Schauspielern geht ja leider oft schon der Atem aus, wenn sie sich denn doch
mal unmittelbar von Schillers Leidenschaft tragen lassen müssen. Also
verfremdet man die Verse zu möglichst natürlicher Rede. Was den Effekt hat,
dass nicht nur sprachlich, sondern auch im Handeln der Helden deren profane
Alltäglichkeit schaubar wird. Das kann spaßig sein.
Hierin ist die Regie durchaus einfallsreich. Zwischen
hohen Kulissen-Wänden und stiebendem echtem Sandhaufen erfinden Deborah
Epstein und Marcus Mislin unterhaltsame szenische Details. Erwähnt sei die
ulkige Kraftmeierei der Gertrud (Ruth Reinecke), mit der sie Berge versetzt.
Dieter Wien ironisiert das berühmte »Einig - einig - einig« des sterbenden
Freiherrn von Attinghausen trocken humorig. Klaus Manchen zeigt den Reichsvogt
Geßler als einen gutbetuchten, sonnenbebrillten, Kaugummi kauenden, behäbigen,
doch kreuzgefährlichen Boss.
Götz Schubert agiert als frohnaturburschiger Tell. Possierlich seine
Bergsteigerei mit Echorufen. Lustig auch, wie er mit Sohn da oben hockt und
beide zur Salzsäule erstarren, wenn unten der Vogt erscheint. Andreas
Bisowski gibt einen überdreht lausbübigen Walterli.
Immerhin wird gelegentlich auch ein bisschen Pathos geboten. Etwa wenn
Arnold vom Melchthal (Frank Seppeler) um den blinden Vater trauert. In solchen
Fällen genügt dann aber Schiller nicht, da muss auch noch Beethoven an die
Front. Eine geschichts- und stildiffuse Bühnen-Kompilation zwischen solidem
Schauspiel und armseliger Theaterei.
Neues Deutschland, 6. April 2000