„Tartuffe“
von Molière vom Théâtre du Soleil Paris, Regie Ariane Mnouchkine
Tartuffe auf orientalischen Teppichen
Wer glücklicher Besitzer ist eines
Billetts für das französische Théâtre du Soleil, betritt eine riesige, wenig
beleuchtete Halle. 1991, für »Les Atrides«, war es das große Filmstudio in
Babelsberg, in diesem Jahr, für »Le Tartuffe«, ist es die »arena«, ein
ehemaliges Fahrzeug-Depot in der Treptower Eichenstraße in Berlin. Dort, nach
kurzer Passage an nüchterner Theke vorbei, sichtet der Besucher hinter
schwarzen Vorhängen ein mächtiges Stahl-Gerüst, bizarr beleuchtet - die
Zuschauer-Traversen des Theaters der Ariane Mnouchkine. Unten, zwischen den
Pfeilern, von allen Seiten einsehbar, sitzen die Darsteller an individuell hergerichteten
Schminktischen, sich auf den Abend vorbereitend. Hingabe, Faszination, Andacht.
Der beeindruckte Besucher wendet sich
der Bühne zu. Hell erleuchtet, von jedem Platz gut einsehbar, bietet sie einen
Innenhof, nach hinten mit hohem Eisenzaun und -tor verschlossen, an den Seiten
mit Schränken, Truhen und Tischen umgeben. Große Teppiche in der Mitte, ein,
zwei Kisten. Lärm von Zikaden schwillt an. Die Besucher nehmen Platz. Ruhe
kehrt ein. Das Spiel beginnt.
Die Mnouchkine, Theater-Legende schon
zu Lebzeiten, hat diesmal ihre Inszenierung des »Le Tartuffe« von Molière
mitgebracht. Nach ihrer Auseinandersetzung mit den Göttern brauchte sie, wie
sie sagt, wieder Umgang mit den Menschen. Molières Komödie schien ihr geeignet,
auf immer wieder aktuelle, oft gefährlich eskalierende, zunächst geistige, dann
soziale Prozesse aufmerksam zu machen. Sie wollte zeigen, was geschieht, »wenn
die Ideologie, statt ein Ideal anzubieten, ein Instrument der Unterdrückung und
der Usurpation der Macht wird«. Der religiöse Eiferer Tartuffe verwandelt sich
bei ihr zum fanatischen Vertreter des islamischen Fundamentalismus, und Orgon,
bei ihr vertrauensseliger Bürger und Familienvater in Algerien, wird fast das
Opfer hysterischen Hasses.
Solche Um- und Neufunktionierung eines klassischen
Stückes hat ihre Tücken. Doch artifizielle Perfektion überzeugt. Anfangs ist
man vielleicht noch irritiert, wenn Orgons Frau Elmire, Tochter Mariane und
Dienerin Dorine barfüßig und in weißer Robe orientalischen Zuschnitts agieren,
wenn sich alles Leben im Hofe und dort meist auf Teppichen abspielt. Und es
erregt, wenn Tartuffe - nach an- und abschwellendem Demo-Lärm der nahen Straße
- mit sechs grimmig dreinschauenden bärtigen Leibwächtern auftritt, bekleidet
alle mit schwarzer Soutane, weißem Hemd und Scheitelkäppchen. Aber dann findet
man es schon »spiellogisch«, wenn Orgons selbstbewußter Sohn Damis von
Tartuffes Häschern gewaltsam entführt wird. Die Inszenierung hat ihre stimmige
ästhetische Struktur, weil der geistige Zugriff der Mnouchkine Realität
einbringt, bittere alltägliche Wahrheit. Nicht zufällig wird ein Lied Cheb
Hasnis eingespielt, eines der populärsten RAI-Sänger, der 1994 vor seiner
Wohnung in Oran von einem islamischen Fundamentalisten erschossen wurde.
Trotz solch brisanter Politisierung
kommt die Komödie nicht zu kurz; wobei zu deren Beförderung überraschend viel
Wasser gebraucht wird. Meist wird's feucht, wenn dies oder jenes Temperament
abgekühlt werden muß, und Gründe, in Rage zu geraten, gibt es ja genug. Der
Hausherr steckt sein zorniges Haupt schon mal in eine Wasserschüssel, auch
Cleante weiß die erfrischende Wirkung zu schätzen, und Dorine ist besonders
verschwenderisch. Es sind, Neugierigen sei es verraten, nicht Castorfsche
Mengen, die da fließen, sondern stets dosierte Portionen. Auch tierisches
Brüllen in wütender Ohnmacht findet kluge Verwendung. Dies und jenes fügt sich
in die unverwechselbare Spielweise der Regisseurin, die ihre Schauspieler zu
einer stilisiert expressiven, ja gelegentlich exaltierten Körpersprache führt.
Das ist possierlich bei Chargen, bei Pernelles verschüchterten Zofen
beispielsweise, die sich ungelenk huschend und hüpfend bewegen. Das ist
bizarr-komisch bei den Hauptfiguren.
Der Orgon des Brontis Jodorwsky ist
auffallend flott zu Fuß, ein Mann in den besten Jahren also, aber eben verbohrt
in seine Sympathie für Tartuffe. Wenn er sich rasend vor Wut mit einem Apfel
ohnmächtig schlägt, ist er gewissermaßen an der Grenze, dort, wo Komik und
Wahrscheinlichkeit sich gerade noch treffen. Wenn er, schon unterm Tisch
hockend, nochmal schnell über den Rand schaut, bebend der Dinge harrend, die da
möglicherweise kommen werden, ist er umwerfend komisch. Wenn er immer mal
wieder losschlagen möchte, aber gerade noch gehindert werden kann, macht er
stets erbärmliche Figur.
Der Tartuffe des Shahrokh Meshkin Ghalam ist
kein vordergründiger, plumper Heuchler, ein Mann eiskalten Kalküls und
doktrinärer Sprache vielmehr, der nur zu gut weiß, daß die aufgewiegelte Masse
der Straße ihm beistehen wird. So geht er es ruhig an, nimmt er sich, den
smarten Bauch immer voran, gehörig Zeit, Elmire (Nirupama Nityanandan) gefügig
zu machen. Gleich zwei Lager richtet er auf den Teppichen. Und wenn er die Frau
packt, noch nicht zwingt, läßt das erkennen, wie letztlich unpersönlich, wie
geschäftsmäßig er die Sache angeht, obgleich ihm in geiler Gier immer wieder
der Speichel aus dem Munde fließt.
Dorine prägt sich ein, in der Darstellung von
Juliana Carneiro da Cunha -quicklebendig, rostige Stimme - ein guter Geist des
Hauses. Geduldig trennt sie Mariane (Renata Ramos Maza) und Valère (Martial
Jacques) immer wieder, als die, verliebt und unvorsichtig, das Küssen nicht
lassen können. Ein Top-Ensemble in internationaler Besetzung - zu nennen noch
Duccio Bellugi Vannuccini (Cléante), Myriam Azencot (Madame Pernelle), Hélène
Cinque (Damis). Wenn endlich Rettung kommt für Orgon und Familie in Gestalt des
Polizisten (Nicolas Sotnikoff), klärt der zwar die Situation und inhaftiert
Tartuffe, stopft aber unverfroren Schmuck in seine Tasche. Und niemand wagt zu
widersprechen. So kompliziert ist die Rechtslage im königlich-demokratischen
Staatswesen.
Jubel für Mnouchkine und ihre Truppe. Wer da
noch ein Billett berappen kann, er wird es nicht bereuen.
Neues
Deutschland, 10. September 1996