„Tartüff“ von Molière am Deutschen Theater
Berlin, Regie Anselm Weber
Beifall für akrobatische Kunststückchen
Als Benno Besson - über eine Regiearbeit demnächst am Schiller-Theater hoffentlich nach Berlin zurückkehrend - Silvester 1963 am Deutschen Theater Molières Komödie „Tartüff" herausbrachte, faszinierte er mit seiner sozial konkreten Spielweise. Fred Düren gab die Titelgestalt hinreißend präzis mit jeder Geste und jedem Ton aus deren Substanz, zeigte den bigotten religiösen Heuchler wie den altersgeilen, verklemmten Sittenstrolch.
Wie erschreckend oberflächlich dagegen, was
Spielleiter Anselm Weber aus München jetzt am Deutschen Theater anbietet. Vor
grellfarbiger, abstrakter Kulisse (zuständig Manuel Fabritz) arrangiert er sich
tummelnde Akteure. Er interpretiert Molière vorrangig als Nachfahr der Commedia
dell'arte und Farcen-Dichter, was allenfalls die halbe Wahrheit ist. Beifall
für akrobatische Kunststückchen statt für subtile realistische Schauspielkunst.
Aber warum auch Menschen entdecken auf der Bühne, wenn sich mit aufgesetzter,
äußerlicher Spielerei Effekt machen läßt. Beispiel: Tartüff wird per Fahrstuhl
eingeführt, den Dorine keck zu hoch dirigiert, so daß der Herr erst einmal
hilflos in der Kulisse zu hängen kommt. Haha, wie lustig!
Glücklicherweise sträuben sich die
Schauspieler ganz offenbar gegen die billigen Einfälle. Jutta Wachowiak gibt
Dorine, der Kammerfrau Marianens, die schöne Souveränität einer selbstbewußten
Plebejerin. Auch Horst Lebinsky als Orgons Schwager Cleante findet mit seinem
still-nachdenklichen Spiel überzeugend zu einer Figur, zu einem rechtschaffenen
Mann, der Orgons pseudo-christliche Äußerungen trocken entlarvt.
Klaus Piontek hat es schwer. Eine
gelegentlich blutende Nase ist das auffälligste Merkmal, das dem Inszenator für
den Orgon eingefallen ist. Der Schauspieler zeichnet immerhin mit leiser Ironie
einen eifrig unterwürfigen, einen durch willfährige Anpasserei sich zum Trottel
machenden Bürger. Eva Weißenborn als Orgons Frau Elmire reißt die berühmte
Verführungsszene doch noch hoch, obwohl sie zunächst als neckische Rennerei
durch den Zuschauerraum und quer durch die Kulissen absolviert werden muß.
Bernd Stempel bleibt als Tartüff blaß und unprofiliert. Ein sanguinischer
Provinzaristokrat scheint gemeint. Der Scheinheilige steht auf dem Programmzettel.
Gespielt wird keine verlogene Frömmigkeit, sondern so etwas wie biedere
Nonchalance.
Petra Hartung (Pernells Dienerin),
Cathlen Gawlich (Mariane), Kay Schulze (Valer) und Daniel Morgenroth (Damis)
dürfen sich akrobatisch hervortun, meist bei fetziger Musik von Tom van der
Geld. Und Käthe Reichel darf die religiöse Eiferin Pernelle mit schrillem
Geschrei überzeichnen.
Überraschend brisant im letzten Akt,
weil zufällig aktuell assoziativ: der verblendete Orgon als abgewickelter
Hausbesitzer. Tartüff ist laut Akte der neue Eigner. Aber bei Molière gibt's
bekanntlich den gerechten absoluten König, der alles in Ordnung bringt.
Theater, Theater! Allerhand Beifall.
Neues
Deutschland, 16. April 1992