„Ritter der Tafelrunde“ von Christoph Hein am
Staatsschauspiel Dresden, Uraufführung, Regie Klaus Dieter Kirst
Parabel auf das Streben nach menschlicher Vervollkommnung
Mit den „Rittern der Tafelrunde", seinem
jüngsten, am Staatsschauspiel Dresden uraufgeführten Stück, weist sich
Christoph Hein als scharfsinniger dialektischer Denker wie feinsinniger
materialistischer Dramatiker aus. Er modelliert die aus dem 9. Jahrhundert
überkommene, mehrfach um- und neugedeutete Sage vom keltischen Nationalhelden
Artus. Speziell dessen erlauchte Tafelrunde nutzt er für eine
assoziationsreiche kammerspielartige Parabel.
Hein gibt den legendären Rittern Keie,
Orilus, Parzival, Mordret und Lancelot, vor allem aber ihrem König Artus eine
dialektische philosophische Weltsicht und Denkfähigkeit, wie sie für das frühe
Mittelalter schwerlich zutrifft. Doch eben diese ungewöhnliche Verfremdung
macht den künstlerischen Reiz des Schauspiels aus. Sie ermöglicht, im Bilde der
Artussage existentielle, den zeitgenössischen Zuschauer berührende tragische Zwänge
des Menschen in epochalen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen genauer und
verständnisvoller zu sehen. Scheinbar geht es um eine Endphase. Doch Hein
schrieb kein absurdes Endspiel. Er bietet ein realistisches Beginnspiel.
In grauer Vorzeit haben König Artus und seine
getreuen Ritter kühn ein gewaltiges, ihren Tagen vorauseilendes Werk in Angriff
genommen. Sie suchten und realisierten die ständige gedeihliche Entwicklung
ihres Reiches. Das war nie einfach, ging nie ohne schwer zu lösende
Widersprüche, selbst nicht ohne Opfer ab. An der Tafelrunde erörterten sie ihre
Entscheidungen. Sie wagten ungewöhnliche Schritte. Sie machten Geschichte. Und
sie lernten auf ihrem Wege. Wandlungen vollzogen sich. Am hehren Tisch zum Beispiel
sitzen inzwischen Frauen, auch junge Leute. Dennoch ist nicht alles so gekommen,
wie sie es sich vorgestellt hatten.
Vor allem ihr Ideal, ihr Traum, der Gral, die
Inkarnation menschlicher Glücksverheißung, ist in die Diskussion geraten. Die
bislang unerschütterliche Suche nach dem Gral, die die Ritter zu ihrem Lebensinhalt
gemacht hatten, scheint inzwischen aussichtslos. Zweifel kommen auf. Vom
Scheitern ist die Rede. Und: Was einst neu war in des König Artus' Reich, ist
es nicht mehr, wird allein schon deshalb von manchem in Frage gestellt.
An diesem Schnittpunkt beginnt Christoph Heins Stück. Die Ritter der Tafelrunde, konfrontiert mit dieser Situation, ziehen Bilanz. Jeder stellt sich auf seine Weise Veränderungen, die er selbst einst mit bewirkt hat. Der Haudegen Keie zum Beispiel möchte bedingungslos am schwer Erkämpften festhalten. Parzival will den Gral nicht länger außerhalb des Königreiches suchen, denn er sieht in ihm ein geistiges Gut des Menschen, das ihn motiviert, mobilisiert und voranbringt. Burgfrau Jeschute bedauert, daß das bislang so sichere Ideal, nach dem man sich vertrauensvoll orientieren konnte, auf einmal brüchig geworden sei. Ritter Lancelot, der merklich gealtert aus der Ferne zurückgekehrt ist, ohne den Gral gefunden zu haben, ist müde und geneigt, auf den Traum überhaupt zu verzichten. Doch der Verlauf der Fabel, wie sie Hein erzählt, signalisiert: Wenn die Ritter ihr großes humanistisches Ideal aufgeben, geben sie sich selbst auf. Zwar ist der Kampf langwieriger, härter, auch opfervoller, als sie erwartet hatten; um so mehr gilt es, die sich vollziehenden Veränderungen als historische Herausforderung zu begreifen und — gestützt auf Erfahrung, Selbstvertrauen und Weitblick — Antworten auf herangereifte Fragen zu finden.
Dafür steht in Heins Stück der König. Da sind
keinerlei Attitüden eines absoluten Herrschers, sondern alle Attribute eines
aufgeklärten Monarchen. Artus ist ein identifikationswürdiger altersweiser
Staatslenker, aufgeschlossen und flexibel in den Haltungen. Er hat nach wie vor
ein offenes Ohr für die Ritter seiner Tafelrunde. Was aufgestörte Helden als
Zerfall ansehen, erkennt und benennt er als notwendigen Wandel, der ständig vor
sich geht. Was diese Dramenfigur in Gang setzt, ist nichts anderes als das
allgemeine gewissenhafte Nachdenken über die Kunst der Negation, die schwierige
Dialektik des Bewahrens und Veränderns. Artus unterbindet tyrannische Lösungen.
Und er hat Verständnis für seinen renitenten Sohn Mordret.
Mordret brüskiert die ehrwürdige Tafelrunde.
Er gebärdet sich als „Aussteiger". Nebenher läßt er sich in mannhafter
Minne mit Orilus Gattin Jeschute ein, doch für die dringlichen Belange des
Königreiches wie seines Standes zeigt er kein Interesse. Und für die bisher
ergebnislose Suche nach dem Gral hat er nur flapsige Sprüche übrig.
Doch Vater und Sohn — dies der Höhepunkt des
Stückes — finden sich. In einem Dialog, den Vernunft diktiert, beginnen sie, aufeinander
zu hören. Mordret verkündet eine für frühe mittelalterliche Verhältnisse ohne Zweifel
schockierende, heutzutage als selbstverständlich anzusehende Absicht: Er will
als Erbe andere Wege gehen als die Helden der Tafelrunde, die vollendeten
Urbilder höfischen und ritterlichen Denkens, in ihrer Zeit für richtig hielten.
Die dabei sich äußernde enge Unbedingtheit des Sohnes ist freilich beunruhigend.
Das Volk scheint ihm gleichgültig.
An diesem Punkt versteht der Zuschauer die
Sorgen des Vaters. Mondret führt sich zwar wie ein möglicher Pragmatiker auf,
aber er vermag vorerst keinerlei Programmatik anzubieten. Der forsche
Rittersprpß und künftige Feudalkönig wird — das ist jedenfalls gewiß — ohne die
Erfahrungen und den Rat der Ritter der Tafelrunde, die er jetzt vor den Kopf
stößt, letztlich nicht auskommen. Demokratie — so diese Kategorie hier ins
Spiel gebracht werden kann — war an König Artus' Hof weiter gediehen als der
Heißsporn Mordret bislang begriffen hatte.
Ein zukunftsbewußtes, optimistisches Theater.
Beharrliches Streben nach Frieden und Glück sowie ständiges Vervollkommnen des
sozialen Gemeinwesens wie des Menschen, dies spätestens seit Goethes
„Faust" große humanistische Thema der Weltliteratur, findet hier eine
bewegende Version sozialistischer Sicht. Dabei arbeitet Hein erfreulicherweise
nicht mit überladenen Metaphern. Seine Dialoge sind meisterlich figurencharakteristisch,
ihre Botschaft ist unmittelbar nachvollziehbar. So teilt sich seine Warnung
mit, nicht fahrlässig preiszugeben, was schwer erkämpft und errungen wurde. So
macht er bewußt, daß erst aus lebendiger Treue zum Ideal Legitimität und Kraft
für notwendige Veränderungen erwachsen.
Die Inszenierung von
Klaus Dieter Kirst besticht durch ihre distinguierte Unaufdringlichkeit. Der
Regisseur drängt sich nicht modisch vor, noch setzt er auf Pointen. Er
erschließt sensibel die reiche Gedankenwelt des Dichters. Die Figuren werden
ernst genommen, kaum spürbar ironisiert. Eher sind sie mit einer gewissen
liebevollen Fürsorge umgeben. :
Der Spielraum (Bühne und Kostüme: Ursula
Müller) betont das Kunstvolle. Keine naturalistisch verfallende Burg etwa, sondern
eine intakte vornehme Kargheit, welche wohltuend kontrastiert mit der sparsamen
Eleganz der auf Historie bedachten Kostüme.
Dem König Artus gibt Rudolf Donath eine
frische Bedächtigkeit der Bewegungen, verhaltene, bescheidene menschliche Güte
und überzeugende Klugheit. Thomas Stechers Mordret hat eine gewissse elitäre
Lässigkeit und Arroganz. Hanns-Jörn Weber spielt einen intelligenten Parzival,
Joachim Zschocke einen störrischen Keie, Jochen Kretschmer einen weichlichen,
ewig sein Weib suchenden Orilus. Peter Herdens Lancelot hat viel vom treuherzigen
Don Quichote. Als Ginevra, Jeschute und Kunneware agieren präzis die Damen
Regina Jeske, Helga Werner und Janina Hartwig.
Neues
Deutschland, 3. Mai 1989