„Der Sturm“ von Shakespeare am Schauspielhaus Dresden, Regie Horst Schönemann

 

 

 

Humanistische Botschaft eines unvergänglichen Bühnenmärchens

 

Am vergangenen Wochenende wurde das Schauspielhaus Dresden mit William Shakespeares tragikomischer Romanze „Der Sturm" wiedereröffnet. Das märchenhafte Stück ist noch heute ein Vorbild für attraktiven poetischen Realismus, für publikumswirksame Bühnenkunst. Die Inszenierung von Horst Schönemann bestätigt das, weist ermutigend auf künftige theatralische Absichten des Ensembles im nunmehr nur ihm eigenen Domizil.

Das Stück wurde 1611 als galantes Festspiel vor König Jakob I. aufgeführt und zur Vermählungsfeier von Prinzessin Elisabeth wiederholt. Die Königstochter war etwa so alt wie Miranda, des Dramas einzige weibliche Gestalt, die sich mit überraschender Selbstverständlichkeit in Prinz Ferdinand verliebt, der ihr von ihrem Vater Prospero mit Zauberkraft zugeführt wird.

Shakespeare lebte in einer Zeit, als viele noch an Hexerei glaubten. Aber auch Nachrichten über neuentdeckte Erdteile, nie gesehene Ungeheuer, Sturm und Schiffbruch, Untergang und Errettung bewegten die Londoner. All diese widersprüchlichen Eindrücke verarbeitete der Dichter. Deutlich setzt er im Spätwerk seiner Romanzen frühbürgerliches aufklärerisches Ideengut gegen die brutalen Praktiken feudaler Machtkämpfe.

Sein Held Prospero ist ein mit seiner Tochter aus Mailand vertriebener Herzog, den ein gütiges Geschick auf eine Insel verschlagen hat. Mit aus Büchern gewonnener magischer Kraft — der ersehnten Fähigkeit, Naturkräfte zu beherrschen — zwingt er den Luftgeist Ariel in seine Dienste. Der ist ein geradezu perfekter Alleskönner. Prospero unterwirft sich schließlich auch den Eingeborenen Caliban. Er bringt ihm zwar seine Sprache bei, behandelt ihn aber wie einen Sklaven. Shakespeare reflektiert hier die Zeit beginnender Kolonisation.

Als nun ein weiteres gütiges Geschick - Wunder der Romanze! — nach zwölf Jahren all seine Widersacher, die ihm in seinem Lande den Thron streitig machten, in die Nähe der Insel verschlägt, setzt Prospero seine gewonnene Macht ein, um wieder Herrscher in Mailand zu sein und seine Tochter mit Ferdinand, dem Sohn seines Gegners Alonso (Jürgen Lingmann), zu vermählen. Er verfolgt selbst schlechterdings nichts anderes als feudale Hausmachtinteressen. Nun jedoch nicht mehr mit Feuer und Schwert, sondern eben mit Hilfe gebändigter Naturkräfte. Er handelt human, verzeihend im Geiste des Vernunftsideals der Renaissance.

Hier liegt denn wohl auch der gedankliche Kern dieses Stückes, geschrieben immerhin wenige Jahre vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges: Shakespeares altweiser Rat, Konflikte — welcher Art auch immer — mit friedlich-vernünftigen Mitteln zu lösen. Diese humanistische Botschaft spricht uns nach Jahrhunderten heute mehr denn je direkt an.

Horst Schönemann akzentuiert die geläuterte Milde Prosperos (Hanns-Jörn Weber), der trotz widriger Erfahrungen nicht in Barbarei zurückfällt. Prospero bleibt sich treu, auch als Insel-Regent. Er ist mit mäßiger Lust der kluge Magier, souverän der humane Rächer. Vor allem aber ist er der umsichtig-besorgte Vater, der Tochter Miranda (Suheer Saleh) unter die erwünschte standesgemäße Haube bringt.

Solch seelische Ausgewogenheit des Prospero liegt im Sinne der Romanze, dieses lyrisch-epischen Gebildes von phantastischer Wunderfreudigkeit, schwärmerischem Gefühl und kritischem Verstand. Deren szenisches Kolorit sucht Schönemann nicht im üppigen Illusionstheater. Er inszeniert vielmehr einen bühnenkargen, darum aber nicht minder poetischen Shakespeare. Sein Bühnenbildner (Volker Walter als Gast) entwarf ihm eine große, leere, nach Belieben schräge Drehscheibe, rotierend im Sturm: Schiff oder Insel. Dahinter zwei weiße, oben gerundete Hänger: die Hütte. Herausforderung der Zuschauerphantasie.

Die Zauberschau für das Liebespaar wiederum ist als respektables Opern-Zwischenspiel arrangiert (Musik: Eckehard Mayer). Aber der dazu hereingeschobene Flügel und die Musikanten sind dann wieder Elemente der Verfremdung, die die Romanze entzaubern. Wie übrigens auch der Einsatz des Mikrofons. Vertraute man den Romanzen-Visionen nicht — oder blieb man stilistisch einfach unentschlossen?

Die dem Stück innewohnende Poesie kommt voll ins Spiel, wenn Ariel die Bühne betritt. Dieser Luftgeist von Tom Pauls ist gar nicht äußerlich flink-geschäftig und wirkt mit Stiefeln und Korsett (für die Flüge aus der Kulisse) eher schwerfällig. Seine Grundhaltung ist dezent-melancholisch. Zugleich aber ist er luftig und zart, ein liebenswürdiger, kein mürrischer, sondern unverdrossen dienstbarer Geselle, der die Aufträge mit links erledigt. Wundervoll, wenn er bescheiden-neugierig nachschaut, ob seine Geistershow dem Meister gefällt. Er ist sanftmütig wie sein Gebieter. Ihm glaubt man den pfleglichen Umgang mit den gestrandeten Herren — allesamt übrigens mit dekorativen schwarzen Zylindern, siehe oben! (Kostüme: Jutta Harnisch als Gast)

Den wilden, aufsässigen Caliban gibt Joachim Nimtz als dunkelhäutigen, zwar kindlich­naiven, aber bärenstarken, ungebrochenen Eingeborenen, der mit seinen Mitteln um seine Freiheit kämpft. Die Szene erlangt tragikomische Züge, wenn Caliban im versoffenen Stephano (Peter Hölzel) und in Trinculo (Wolfgang Gorks) Verbündete sieht und begeistert in einen urwüchsigen Freudentanz ausbricht.

Der Ausgang des Stückes — das glückliche Liebespaar, der versöhnliche Ausgleich Prosperos mit seinen Widersachern, sein Dank an Staatsrat Gonzales, der freie Ariel, der hoffende Caliban — wurde von Schönemann als so allseitig positive Lösung inszeniert, daß sie ein wenig sentimental geriet. Verfremdet ward sie allerdings vom Dichter selbst: durch Prosperos Absage an die Zauberkunst, durch notwendige Rückkehr aus der Romanze ins alltägliche Leben, das friedfertig-vernünftiges menschliches Handeln braucht.

 

 

Neues Deutschland, 9. Januar 1985