„Auf der großen Straße“ von Anton P. Tschechow an der Volksbühne Berlin, Regie Horst Hawemann

 

 

 

Von der Sehnsucht nach Liebe und Glück

 

Anton P. Tschechows frühes Stück „Auf der großen Straße" in der Berliner Volksbühne. Eine mächtige Betonwand beherrscht die Szene. Es scheint eine für die Ewigkeit errichtete Mauer. Spärlich ist sie beleuchtet. Aber eine kostbar silberne Tür ist offen. Zwei windige Gesellen dienern bei jedem Menschen, der sie passiert.

Merkwürdige Gestalten schreiten herein. Ein junger Mann (Peter René Lüdicke) beispielsweise mit einer Gießkanne und einem kahlen, wurzelverpackten Bäumchen. Ein Herr in den besten Jahren (Gerd Preusche) mit nackter Brust steht herum, schaut in die Ferne. Ein Greis in Büßergewand (Joachim Tomaschewsky) simuliert das Sterben und freut sich, wenn ihm geglaubt wird. Das ist einer der Momente, wo die Figuren zueinander finden. Zunächst agieren sie isoliert an diesem unwirtlichen Ort, doch ihr Elend bringt sie dazu, gemeinsam zu handeln.

Als einen „kleinen Unfug für die Bühne" empfand der Autor, was er nach seiner Erzählung „Im Herbst" wahrscheinlich 1884 schrieb. Landstreicher und Pilger treffen sich in einer Schenke, einem Nachtquartier für Reisende, und kommunizieren. Mit dem Argument, dieses „finstere und schmutzige Stück" darf nicht zur Aufführung zugelassen werden, sorgte damals der Zensor dafür, daß es kaum bekannt wurde.

Das unausgeglichene Werk des 24jährigen Russen, der vor seinem Doktorexamen stand, sich en passant als Dichter profilierte, läßt schon den großen Seelenschilderer erkennen. Zwar scheint sich eine absurde Spielwelt zu entfalten, Impressionen hängen nur lose zusammen. Aber schließlich fügen sich Geschichten. Ein Verlassener sieht noch einmal seine Geliebte und liebt die Treulose noch immer. Ein junges Paar begräbt seinen Streit.

Den fragmentarisch anmutenden Text mit einem Figurenensemble, das aus der Commedia dell'arte zu stammen scheint, haben sich Regisseur Horst Hawemann und seine Akteure mit liebevoller Sorgfalt genähert. Zustande gekommen ist eine echte Entdeckung, ein zwar etwas langatmiger, aber anschaulicher Theaterabend.

Auf Realität und Fantastik gleichermaßen bedachte Spieler bieten keine naturalistische Analyse, sondern ein symbolhaftes „Märchen". Unterstützt von Bühnenbildner Martin Fischer, der die Schenke aus der russischen Provinz abstrahierte und zeitlos als trist-moderne Absteige etablierte. Wenn sich die Bühne dreht, zeigt sich hinter der Mauer ein Gartenidyll mit grünenden Birken.

Mit dem Wechsel zwischen Öde und Oase wird erzählt, wie sehr sich das Leben, obwohl bewegt, auf der Stelle zu drehen pflegt. Mit all seinen Sinnen sehnt sich der lMensch nach Liebe und Glück, doch immer wieder holt ihn die rauhe Wirklichkeit ein. Für diese Assoziationen stehen Tschechows Pilger und Landstreicher. An der großen Straße zwischen Moskau und Odessa sind sie abgestiegen. Die einen zieht es nach Moskau, die anderen über Odessa nach Jerusalem. Doch ob sie sich nach links wenden oder nach rechts, stets werden sie von den Wölfen gefressen. Und wenn sie geradeaus gehen, fressen sie sich selbst.

Allein, sie wissen es nicht. Sie leben ihren Tag. Fedja, der leidenschaftliche junge Mann, von Peter René Lüdicke mit clownesker Verve gespielt. Irina, das vitale, rebellische Mädchen (Annett Kruschke elanvoll). Die gestrandete bessere Dame Nasarowna, eine komische Alte (Heide Kipp souverän). Jegor Merik, der Landstreicher mit Prinzipien (Jürgen Rothert). Der Kutscher Kusma (Winfried Wagner).

Unter ihnen der heruntergekommene Gutsherr Borzow (Gerd Preusche), dem Wodka verfallen, weil ihn seine Frau (Susanne Düllmann) in der Hochzeitsnacht verlassen hat. Als ihm der Wirt, der Leuteschinder (Bodo Krämer), und die Gäste Alkohol spendieren, holt er in seiner Euphorie - dies ein szenisches Bonmot der Regie - eine Flaschenpost aus einem Gulli. Darin ist vielsagend von kommender Freiheit die Rede und von der wahrscheinlich schizophrenen, denunzierenden Art, mit der die Menschen davon Gebrauch machen werden.

Für ein überzeugendes Ensemble viel Beifall, angereichert mit Bravo- und Buh-Rufen.

 

 

 

Neues Deutschland, 13. November 1991