Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter“ am
Berliner Ensemble, Regie Philip Tiedemann
Beklemmung und Erschütterung im Berliner
Ensemble. Dreieinhalb Stunden anrührendes, bewegendes Theater zum Auftakt der
neuen Spielzeit, der zweiten unter Claus Peymann. Sein junger Vize, Philip
Tiedemann, bereits mit „Jandls Humanisten“ am Hause sehr erfolgreich, brachte
Rolf Hochhuths christliches Trauerspiel „Der Stellvertreter“ konzeptionell und
ästhetisch überzeugend auf die Bühne. Minutenlang andächtige Stille am Ende der
Vorstellung, dann erst angemessener Beifall, Bravorufe.
„Dieses Stückes wegen lohnt es sich,
Theater zu machen“, hatte der politisch engagierte Erwin Piscator bekannt und
1963 an der damaligen Freien Volksbühne in Westberlin Rolf Hochhuths episch-dramatisches
Werk uraufgeführt. Womit er einen erbitterten Streit auslöste. Was erregte die
Gemüter? Die öffentliche Erinnerung eines unsäglichen historischen
Sachverhaltes: Papst Pius XII., der Stellvertreter Gottes auf Erden, hatte zu
den ungeheuren Gräueln Hitlers und seiner Mörderbande geschwiegen! Nicht nur
das. Der Vatikan hatte im Grunde mit Hitler paktiert, hatte insgeheim am
Geschäft mit dem Krieg teilgenommen. Dies menschenunwürdige Verhalten prangerte
der junge, bis dahin unbekannte Hochhuth schonungslos an. Und alle, die gern
sowohl die Untaten der Faschisten als auch die Tolerierung durch die offizielle
katholische Kirche vergessen gemacht hätten, schrieen getroffen auf.
Inzwischen ist nahezu ein halbes
Jahrhundert vergangen. Resigniert muss man konstatieren: Jene, die damals gegen
das Stück auftraten, scheinen obsiegt zu haben. Offene und versteckte
faschistoide Auswüchse in der Gesellschaft muten an wie Symptome einer
unaufhaltsamen Eskalation. Vor allem junge Bürger, von den Schulen nicht gerade
realistisch über Faschismus und Krieg informiert, verfallen erneut verbrecherischen
Ideen, marschieren mit nazistischen Parolen durch die Städte, toleriert von
Politik und Justiz, geschützt von der Polizei. Kann Theater überhaupt noch gegen
halten? „Lohnt“ es noch? Was das Berliner Ensemble jetzt offeriert, ist mehr
als nur mahnende antifaschistische Erinnerung.
Dank der sehr behutsamen Bearbeitung des
Stückes durch Philip Tiedemann (Dramaturgie Jutta Ferbers) rücken zwei Helden
deutlich ins Zentrum, gibt es weniger eine breite, genrehafte episch-historische
Bestandsaufnahme des gewöhnlichen Faschismus, vielmehr dramatisch aufbereitet
das verzweifelte, tragisch vergebliche Anrennen zweier aufrechter junger
Menschen gegen die politische Borniertheit der reaktionären katholischen
Kirchen-Hierarchie.
Der eine: Kurt Gerstein, ein Deutscher,
SS-Obersturm-führer, „Landesverräter“. Er riskiert sein Leben, um den Papst zu
einer klaren Stellungsnahme gegen den Holocaust zu bewegen. Michael Maertens
gibt ihm kongenial Gestalt. Keine Manier, sondern faszinierend reine
Leidenschaft. Im Aus-bruch des Protestes real und elementar, im Abwägen empfindsam
bedacht und anrührend. Immer deutlicher, immer erschütternder, wie dieser Mann
zwischen „nazistischem Vaterland“ und Gewissen zerrieben wird im vergeblichen
Versuch, jüdische Menschen vor den Gaskammern zu retten. Ein Schrei, der aus
dem Herzen kommt.
Der andere: Pater Riccardo Fontana, ein
Italiener, hineinverstrickt in den Kampf, die Herausforderung annehmend, noch
naiv an christliches Ethos glaubend, es emphatisch einklagend gegenüber dem schamlos
taktierenden und lavierenden Papst Pius XII. (Hans-Michael Rehberg in eindrucksvoller
Studie). Auch bei Markus Meyer reine Leidenschaft, weniger strahlend
vielleicht, aber eindringlich, höchst lauter in ihrer unbedingten
Menschlichkeit.
Gespielt wird in einem sachlich-nüchternen
Bühnenbild von Etienne Pluss, das der letztlich dokumentarischen Struktur des
Textes einen konzentrierten Platz gibt. Einzelne Spielelemente erinnern an
Piscators episches Theater. In den Pausen halten vor einer Leinwand still
agierende Schauspieler die aufgekommene Spannung, unterstützt durch die Musik
(Ole Schmidt). Eingeblendete Texte zu Ort und Zeit orientieren den Zuschauer.
Regisseur Tiedemann bestätigt sich einmal mehr als subtiler Realist, versteht
es, die zuweilen eher informativen denn dramatischen Dialoge Hochhuths
spielerisch aufzubereiten und die Figuren plastisch zu verlebendigen. Ein
kreatives Ensemble vorzüglicher Schauspieler engagiert sich. Martin Seifert
(Nuntius) zu nennen, Peter Fitz (Kardinal), Klaus Hecke (Eichmann), Roman
Kaminzki (Graf Fontana).
Die Aufführung – bewusst in Szene gesetzt
auch zum Gedenken an die 55000 Berliner Juden, die im Oktober 1942 deportiert
wurden – lässt hoffen, dass sich hauptstädtische Bühnen deutlicher und mutiger
denn in vergangenen Spielzeiten als Stätten humanistischer Botschaft und
Verständigung ins Bewußtsein der Öffentlichkeit prägen werden. Die Zeiten haben
es bitter nötig.
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„Neues Deutschland“, 18. September 2001