6. Der Neubeginn (1945-1951)
6.6
Stanislawski in deutscher Aneignung
Die Begegnung des deutschen Theaters
mit Stanislawski ging nicht von Berlin aus, sondern von Weimar.
Dort — im Schloß Belvedere — hatte im Sommer
1947 Maxim Vallentin, aus der Sowjetunion zurückgekehrt, gemeinsam mit Ottofritz Gaillard und Otto Lang zur methodischen Erneuerung des
Theaters das Deutsche Theaterinstitut gegründet. «Wenn man so will», erzählt Ottofritz Gaillard, «waren wir neugierig auf Grundgesetze unserer Kunst...
Was ist überhaupt an der ganzen Schauspielkunst lehrbar? Was ist Talent?... Wir
mußten ja nun ganz neu anfangen mit einer
Schauspielkunst, die auch gesellschaftliche Verpflichtungen mit ihren Mitteln realisieren wollte... Ich machte das
allererste Grundlagen-Seminar dergestalt — es gibt ja von Stanislawski Bücher. Wir hatten in deutscher
Übersetzung zur Verfügung den ersten Teil, den Anfang seines Systems. Da lag eine ganz schreckliche Schweizer Ausgabe vor, die in einem fürchterlich verqueren Deutsch geschrieben war. Kein Mensch
war da klug geworden. Als ich die gelesen habe, wurde ich daraus klug, weil ich
mir's übersetzen konnte in die Praxis, die ich
bei meinem Iwan Schmith gehabt hatte. Ich wußte, was da gemeint war, und habe also auf Grund der einzelnen Kapitel
unterrichtet, wie dieser Schauspieler Torzow bei Stanislawski in diesem ersten
Buch vorging. Ich habe das...
sozusagen nachgemacht.» (6.50)
Ottofritz Gaillard
Aus den allerersten Erfahrungen der Unterrichte an der
Schauspiel-Abteilung der Musikhochschule Weimar nach 1945
und aus den Studien, die Ottofritz Gaillard noch vor 1945 gemacht hatte, (6.51) entstand bereits 1946 «Das deutsche
Stanislawski-Buch», dem in Berlin Herbert Jhering sehr bald Beachtung schenkte.
1948 schrieb er, nachdem er verschiedene Verirrungen in der
Nachkriegsentwicklung der Schauspielkunst kritisiert hatte: «In diese
Verirrungen, die eine Grundbesinnung auf die Elemente der Schauspielkunst
herausfordern und eine Reform an Haupt und Gliedern, schlägt zur rechten Zeit
ein Buch ein, das von der Schauspielschule bis zur Ensemblebildung das Theater
wieder auf seine wahre Basis stellen will: "Das deutsche
Stanislawski-Buch" von Ottofritz Gaillard. Es berichtet von den Methoden,
mit denen in Weimar nach dem Vorbild Stanislawskis der Schauspielstudent
erzogen und seine Vorstellungskraft entwickelt wird.» (6.52)
Jhering verließ sich nicht auf die Aussagen des Buches. «Ich habe mehreren
Unterrichtsstunden der Weimarer Theaterschule beigewohnt. Ich glaube nicht, daß
die Gefahr der Erstarrung oder gar der Unterdrückung der Persönlichkeit
besteht. Im Gegenteil: die Persönlichkeit wird erst befreit, weil ihre
selbständige Vorstellungskraft geweckt wird, aber in der
Gemeinschaftsarbeit, aber im Ensemble.» (6.53)
Maxim
Vallentin
Im Geleitwort zum deutschen Stanislawski-Buch erhob Maxim
Vallentin seine Forderung nach dreifacher Wahrheit. Er ging von Hamlets Rede an
die Schauspieler aus, von Shakespeares unübertroffener Definition realistischer
Schauspielkunst. Vallentin forderte erstens die Wahrheit der schauspielerischen
Empfindung, zweitens die gesellschaftliche Wahrheit und drittens die Wahrheit
der Bühne — mit dem Ziel, die Bühne der Wahrheit zu begründen. In seinem
Vorwort fragte Gaillard: «Warum Stanislawski? Ist das etwa nur eine
zeitgenössische Russenmode, zweckdienliche Konjunktur des Augenblicks?» Und er
antwortete: «Den deutschen Theaterleuten ist Stanislawski seit Jahrzehnten ein
Begriff... Was er gelehrt hat, ist nichts umwälzend Neues. Darauf erhebt er
niemals Anspruch. Im Gegenteil: es ist das Alte, es ist Wahrheit und Natur, was
er lehrt. Aber: er ist der erste und einzige, der aus den
richtigen Erkenntnissen des organischen Schaffens die Folgerungen gezogen hat.»
(6.54)
Den damaligen Stand methodischen Selbstverständnisses an
der Schauspielschule des Deutschen Theaters charakterisiert Horst Schönemann
so: «Gemessen an dem, was kurz darauf mit Stanislawski und Brecht losging, war
unsere Schauspielschulzeit relativ schwach.» (6.55)
Nun muß angemerkt werden, daß in Weimar-Belvedere in
jenen Jahren nicht nur personell günstigere Bedingungen für ein Ausprobieren
neuer methodischer Erkenntnisse bestanden. Auch die relative Isoliertheit und
Geborgenheit in Thüringen - wenig später bereits ein Mangel! — war damals der
Arbeit dieses neuen «Lehr-Ensembles» förderlich, eines Lehrkörpers, «der in
einem ungeheuer einheitlich war: Es ging uns allen miteinander um die Suche
nach den methodischen Grundlagen der Schauspielkunst.» (6.56)
Solch verbindliches und allgemein akzeptiertes Ziel für die Lehrtätigkeit
stellte sich damals in Berlin nicht her. Horst Hoffmann war nicht der Leiter,
der die unterschiedlichen Lehrkräfte im gespaltenen Berlin um eine derartige
strategische Aufgabe hätte formieren können.
Anmerkungen:
6.50 Ottofritz Gaillard:
«Ich hatte in Berlin ein ungeheures Glück für meine
bühnenpraktische Ausbildung. Da kam ein
deutsch-russischer Regisseur, der hieß
Iwan Schmith, der war unter Max Reinhardt
Direktor der Kammerspiele des Deutschen Theaters und war Lehrer an der Schule des Deutschen Theaters, dann später Oberspielleiter am Wiener Burgtheater... Der kam 1934 von Wien nach Berlin, und durch diesen Iwan Schmith habe ich... die Ansätze und die Grundideen des Stanislawski-Systems praktisch kennengelernt.» In: Gespräch mit Prof. Dr. Ottofritz Gaillard, v. 29.5.1985, HS-Archiv, Tonb.-Aufz. (In den Bühnen-Jahrbüchern wird Iwan Schmith zwar für 1935 in
Berlin registriert, aber weder am Deutschen
Theater noch an dessen
Schauspielschule.) Das von
Gaillard genannte Buch:
«Das Geheimnis des schauspielerischen
Erfolges», wiedergegeben nach der Übersetzung von Alexandra Meyenburg, Scienta-Verlag Zürich 1939. Der Schauspieler Torzow spricht im Namen Stanislawskis. Zurück zum Text
6.51 Ottofritz Gaillard: «Als ich... Soldat war in Frankreich habe ich mir Bücher über sowjetisches Theater gekauft und habe die in meinen vielen Nachtdiensten... studiert, habe mich über Meyerhold, Tairow
usw. gebildet.» Gespräch m. Ottofritz
Gaillard, a.a.O. Zurück zum Text
6.52 Herbert Jhering, Berliner Dramaturgie, Aufbau-Verlag Berlin 1948, S. 70 Zurück zum Text
6.53 Ebenda, S.
74 Zurück
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6.54 Ottofritz
Gaillard, Das deutsche Stanislawski-Buch, Berlin 1946, S.
13 Zurück zum
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6.55 HS-Archiv,
Bl. B 61 Zurück
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6.56 Gespräch m. O. Gaillard, a.a.O. Zurück zum Text
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