Rückblick auf die Spielzeit 1955/56
Bühne,
Zeit und Dramatik
Einem Rückblick auf die Spielzeit 1955/56 müssen wir nicht vorausschicken,
welche Aufgabe den Theatern in der
Deutschen Demokratischen Republik zukommt bei der Demokratisierung unseres
gesellschaftlichen Lebens und bei der Herausbildung eines sozialistischen Bewußtseins unserer Menschen; denn das ist vielbesprochen
und in den Grundfragen anerkannt. Uns interessiert vielmehr, wie weit die
Theater ihrer Aufgabe gerecht geworden sind. Wobei wir meinen, daß es in der Bühnenkunst zwar keine Erfüllung nach soundso viel Prozenten geben kann,
aber sehr wohl nach Tendenz, Niveau und Breitenwirkung.
Allerdings
möchten wir nicht in den Ruf kommen,
der allgemeinen Kritiklust unserer Tage verfallen zu sein, die reale Maßstäbe
zu vergessen droht. Immerhin geben bei uns 89 Theater teils in neu erbauten, teils in wieder aufgebauten Häusern jährlich rund
dreißigtausend Vorstellungen, wozu sie von der Regierung nahezu 90 Millionen
Mark Subventionen erhalten. Auch dies gehört zur Bilanz eines Spieljahres, das
diesmal eine Saison der Erstaufführungen genannt werden kann.
Erstaufführungen
Die
Theater wetteiferten förmlich in dem Bestreben,
eine Erstaufführung für Deutschland oder für die Deutsche Demokratische
Republik herauszubringen. Das war eine erfreuliche und zu begrüßende
Initiative. Erinnern wir uns nur an einige der wichtigsten Premieren: Rostock „Der gute Mensch von Sezuan" von Bertolt Brecht; Dresden „Das verlorne Gesicht" von Günther Weisenborn; Weimar „Jan Hus" von Alois Jirásek; Leipzig
„Die Kampffische" von Charles Fenn; Senftenberg „Das tolle Lamm" von Aurel Baranga; Potsdam „Die Reisenden" von Ewan MacColl; Frankfurt/Oder
„Verschlungene Wege" von Alexej Arbusow; Rostock „Mann und Frau" von Alexander
Fredro, Schwerin „Kaffeehauspolitiker" von Henry Fielding; Dresden-Radebeul
„Schiff ohne Hafen" von Jan de Hartog und
Altenburg „Haus Potiphar" (Uraufführung) von
Lester Cole und Alan Max.
Diese
Erstaufführungen waren mitbestimmend für das Gesicht der Theater.
Charakteristikum gegenüber früheren
Spielzeiten war daher im Zusammenhang mit der Aufführung weiterer
bisher wenig gespielter Werke der
Weltdramatik eine größere Vielseitigkeit. Aber leider war das Bedürfnis,
die Pläne weltoffener zu gestalten, vielfach nicht von der Absicht bestimmt,
ihnen auch ein eigenes, individuelles und vorwärtsweisendes Profil zu geben,
sondern einher mit der größeren Vielfalt in der Thematik ging die Konzessionsbereitschaft
in Fragen der Ideologie, ging mangelnde
Konsequenz.
Schauen wir uns doch einmal einige Wochen-Spielpläne an! Zum
Beispiel — ganz willkürlich herausgegriffen
— die Woche vom 23. bis zum 29.
April 1956: Bernburg: zweimal „Carmen", einmal „Mädel aus der Lobau", dreimal „Frau
Luna", einmal „Mädel wie du"; Meißen: viermal „Biberpelz", dreimal „Vetter aus Dingsda", einmal „Premiere fällt aus",
zweimal „Graf von Luxemburg"; Wittenberg:
viermal „Aushilfsgatte", zweimal „Kaution", fünfmal „Gasparone", dreimal „Zerbrochene Krug".
(Auswärtige Gastspiele jeweils mit
einbezogen.) Die Einsicht weiterer Wochenpläne ergibt, daß diese Art Theaterzettel, auf denen sich Operette und
Schauspiel nahezu die Waage halten, für viele Theater als typisch anzusehen waren. Natürlich differiert das mannigfaltig;
auch sind die Schwierigkeiten vor allem kleinerer Bühnen bekannt. Dennoch liegt
die Tendenz solcher Pläne auf der Hand, und man kann schwerlich der Meinung
sein, daß sie mit der oben skizzierten Aufgabe
unserer Theater übereinstimmt.
Orientierung
auf die Gegenwart
Die
rein bürgerliche Unterhaltung bekam ihr erdrückendes Übergewicht allerdings
erst dadurch, daß unsere Gegenwartsdramatik auf den
Spielplänen nahezu ausgestorben schien. Auch in dieser Beziehung ist eine
kleine Untersuchung recht aufschlußreich. Zum
Beispiel sahen die Pläne sämtlicher Theater unserer Republik in der
Woche vom 26. März bis zum 2. April
folgende Werke der Gegenwartsdramatik vor: „Am Ende der Nacht" in
Eisenach und Potsdam, „Shakespeare dringend gesucht" in Stendal,
„Taillenweite 68" in Stralsund, „Premiere fällt aus" in Bautzen und
„Ehe eine Ehe eine Ehe wird" in Greifswald und Karl-Marx-Stadt. In der
Woche vom 25. Juni bis zum 1. Juli: „Am Ende der Nacht" in Halle und
Wittenberg, „Teufel im Haus" in
Neustrelitz und „Shakespeare dringend gesucht" in Stendal. (Jeder
Titel wurde an dem betreffenden Theater zumeist nur einmal während dieser Woche genannt.) Wir kommen also einfach
nicht um die Feststellung herum, daß die Spielpläne der letzten Saison bedenklich
arm waren an solchen Werken, die sich mit unserer
gesellschaftlichen Wirklichkeit auseinandersetzen.
Es
wird zur Lebensnotwendigkeit unserer Bühnen, sich in der kommenden Spielzeit
auf die Gegenwart zu orientieren. Denn ein Theater, das nicht aus seiner Zeit
heraus lebt und dessen Impulse nicht unmittelbar auf die Zeit einzuwirken
vermögen, verfällt der Konvention und der Erstarrung.
Bei aller notwendigen Besinnung auf die Traditionen des deutschen
Theaters, bei aller Anlehnung an große
schauspielerische Leistungen vergangener Jahrzehnte: Das Theater der
Gegenwart kann sich nicht aus der Vergangenheit erneuern, sondern nur in der
Auseinandersetzung mit dem lebendigen Heute.
Die
Zukunft des Theaters
Und es ist kaum anzunehmen, daß
das Fundament einer
solchen Erneuerung der westdeutsche Staat sein wird. Dort treffen sich
bürgerliche Gesellschaft und bürgerliches Theater zu einem letzten großen
Fest. Vieles Gute, Fortwirkende werden wir eines Tages zu übernehmen haben, und
wir alle wünschen und hoffen, daß das nicht eines
allzu fernen Tages sein wird. Schon jetzt gibt es ja einen recht lebhaften
Austausch. Aber eine fundierte nationale Weiterentwicklung des deutschen
Theaters ist nur in der Deutschen Demokratischen Republik möglich, weil dieses
Theater auf der Grundlage neuer gesellschaftlicher Verhältnisse wächst.
Verfehlt
wäre es, sich in Spekulationen einzulassen über das mögliche Gesicht dieses
Theaters. Daß es wesentlich von Bertolt Brecht beeinflußt und bestimmt sein wird, steht außer Zweifel,
ebenso, daß nur wirkliche Dichtkunst einen neuen Stil
zu bilden vermag. Grundsätzlich ist Voraussetzung, daß
sich die Dramatik mit dem Neuen in unserer
Gesellschaft auseinandersetzt, daß sie es zu
begreifen, zu deuten und zu läutern versucht;
denn wahrhaft produktiv wirkendes
Theater war immer Theater der Gegenwart: Lessing, Lenz, Schiller,
Kleist, Hauptmann, Wolf, Brecht. Nicht zufällig erklärte Jean-Paul Sartre in
der Zeitschrift des „Théätre Nationale Populaire": „Was mich angeht, so habe ich von jetzt an den Bürgern nichts mehr zu sagen." Sartre
weiß, daß die Zukunft des Theaters nur bei der
Arbeiterklasse und deren Kämpfen und Problemen liegen kann. Das neueste Werk
Nasim Hikmets „Hat es Iwan Iwanowitsch überhaupt
gegeben?" erhellt die große Bedeutung, die dem Theater zukommen wird, wenn
es sich auf seine ureigene Aufgabe besinnt.
Dazu
gehört, daß sich auch unsere Dramatiker auf ihre
ureigene Aufgabe besinnen! Harald Hauser („Am Ende der Nacht" in
Magdeburg), Hans Lucke („Glatteis" in Dresden) und Werner Salchow („Der Teufel im Haus" in
Neustrelitz) haben sich in der letzten Spielzeit erfolgreich mit der
unmittelbaren Gegenwart auseinandergesetzt. Wann
werden uns Erwin Strittmatter, Hedda Zinner, Heinar Kipphardt, Peter Hacks, Alfred Matusche, Walter Gilbricht, Alfred Bagdahn,
Joachim Knauth, Curt Corrinth,
Paul Herbert Freyer, Gerhard W. Menzel,
Gustav von Wangenheim,
Karl Grünberg, Hermann Werner Kubsch, Hans-Otto Kilz, Stefan Brodwin,
Annemarie Bostroem, Horst Beseler, Hans
Pfeiffer neue Werke der Gegenwartsdramatik schenken? Die Scheu vor „heißen
Eisen" dürfte doch wohl gefallen sein!
Natürlich
werden viele Autoren auch Dramen schreiben,
die sich mit der Geschichte unseres Volkes oder mit der
anderer Völker beschäftigen. Niemand
bestreitet die Notwendigkeit und die Wichtigkeit solcher Werke wie
„Columbus oder Eröffnung des indischen
Zeitalters" von Peter Hacks, „Die Lützower"
von Hedda Zinner, „Der Ketzerkönig" von Knauth, „Das oberste Gesetz" von Bagdahn
oder „Abraham Lincoln" von Gilbricht. Aber wir
brauchen dringender denn je Theaterstücke, die die Konflikte unserer Menschen künstlerisch zu gestalten suchen. Die Gegenwart
muß auf der Bühne wieder zu Hause sein. Vorerst
klopft sie nur schüchtern an.
Dramaturgen - Dramatiker
Rennen
wir offene Türen ein? Fast scheint es so;
denn so oft man mit einem Dramaturgen spricht, beteuert er händeringend, daß er verzweifelt
nach „dem" Gegenwartsstück sucht. Allerdings gibt es meist ein
unentschiedenes Wiegen mit dem Kopf, wenn es darum geht, ein bereits
uraufgeführtes Gegenwartsstück (auch bei denen aus der Sowjetunion oder den
Volksdemokratien) nachzuspielen. Ein
resignierendes Achselzucken ist die Antwort, wenn man sich nach den
Möglichkeiten erkundigt, dem Mangel an Gegenwartsdramatik
abzuhelfen. Zweifellos muß man nicht immer gleich
Meisterwerke zu spielen wünschen. Wie viele Dramen wurden in vergangenen Jahrzehnten
gespielt, die heute vergessen sind. Aber da man sie spielte, bildeten sie den
widerspruchsvollen, fruchtbaren Untergrund für das Gedeihen des großen
Kunstwerkes.
Doch
wie kommen wir zu neuen Dramen? Auf dem Schriftstellerkongreß schlug Bertolt Brecht den Dramatikern vor, als
Dramaturgen an den Theatern zu arbeiten, um ihr Handwerk besser erlernen und
ihre Werke besser unterbringen zu können.
Es ist höchste Zeit, sich dieses Vorschlages zu erinnern. Selbst
mittlere Theater unserer Republik sollten sich ihren Hausautor suchen, den sie
als Dramaturgen oder Assistenten anstellen, und mit dem der Chefdramaturg im
Laufe einer Spielzeit ein Theaterstück zu entwickeln sucht. Das klingt zwar
recht schematisch und einengend für Dramatiker und Theater, aber schließlich ist
diese Methode in der Theatergeschichte erprobt. Natürlich müßten
im Haushalt der Theater die Mittel freigestellt werden. Es geht ohnehin nicht
mehr an — wie Dramaturgen oder Intendanten erklären —, daß
den Spielplan letzten Endes der Verwaltungsdirektor
bestimmt. Eine solche Theaterpraxis erinnert peinlich an kapitalistische
Methoden. Deren Auswirkungen charakterisierten Schauspieler auf dem Kongreß junger Künstler mit dem Hinweis, daß leider in vielen Theatern noch recht wenig neues Denken
zu spüren sei!
Schauspielstil
Die ungenügende Orientierung unserer Theater auf
die Gegenwart macht sich auch bereits in einer gewissen Erstarrung des
Schauspielstils bemerkbar, da die belebenden, erneuernden Impulse aus der
tätigen Wirklichkeit fehlen. Gewisse Mängel unserer
Regiepraxis begünstigen diese Erscheinung. Vielen Inszenierungen wird
Eintönigkeit, Farblosigkeit und Kontrastlosigkeit vorgeworfen.
Zweifellos: Die Wahrheit des
Ausdrucks ist oberstes Prinzip unserer Regisseure, und dank ihres Bemühens haben wir erreicht, daß selbst an kleinen Bühnen
gewissenhaft um eine wahre szenische Ausdeutung gerungen wird. So, wie
wir uns im Leben erst einmal wieder grundsätzlicher Werte erinnert haben, so
haben wir uns auch auf der Bühne erst einmal für „einfachste Wahrheit" interessiert. Aber die Schauspielkunst verlangt gebieterisch
reichere Mittel. Wir müssen weg von der pedantischen Nachahmung der Natur.
Zwei Merkmale kennzeichnen die Situation im Einzelnen. In dem
Bestreben, die szenische Wahrheit zu finden,
und in der Scheu, dabei theatralisch auszugleiten,
lassen manche Regisseure ihre Darsteller wenig ausspielen, vermeiden sie
die ergreifende Geste. Sie „unterspielen",
um allem unwahr und
aufgesetzt Wirkenden zu entgehen. Dadurch arbeiten sie ungenügend an den Charakteren. Solche Inszenierungen „stimmen", aber
ihnen fehlt Farbe und Glanz. Als wir in Dresden „Fuhrmann Henschel"
sahen, wurde deutlich, wie wir die
Einförmigkeit überwinden können. In Dresden hatte nämlich jede Gestalt
ihren eigenen Rhythmus! Das ist zwar nichts Neues, wird aber leider oft
vergessen. Ottofritz Gaillard hatte den vom Autor für
die Figur gewünschten Rhythmus mit dem des jeweiligen Darstellers zu verbinden gewußt, und dadurch entstand eine farbige, plastische und vor allem sehr intensive Aufführung.
Ein weiteres Merkmal ist, daß unsere Regisseure zwar von der
sogenannten „Stellungsregie", die den Darsteller unter Umständen
verklemmt, abgekommen sind und versuchen,
vom Schauspieler zur Rolle zu gelangen, daß
sie nun aber oft bei einer verschwommenen und unpräzisen Rollenzeichnung stehenbleiben. Sie feilen ihre Inszenierungen nicht mehr bis zur äußersten gestischen
Präzision aus, und die Darsteller verlieren das Gefühl für szenische
Exaktheit.
Erfolge
Unsere Nachlese wäre
unvollständig, würden wir uns nicht auch einiger eindeutigen Erfolge würdigend erinnern. Rostock
brach die Zurückhaltung der Republiktheater gegenüber Bertolt Brecht. In einer mustergültigen Brecht-Inszenierung von Benno
Besson, dem erprobten Regisseur des Berliner Ensembles, und in der Besetzung
mit Käthe Reichel als Gast brachte das Volkstheater den „Guten Menschen von
Sezuan", mit dem es in Bremen und Hamburg nicht nur überaus erfolgreich
gastierte, sondern zu Hause auch ein lebhaftes Für und Wider auslöste. Die
Erfurter Bühnen folgten mit einer ganz eigenständigen Inszenierung des
„Kaukasischen Kreidekreises".
Die Dresdener Staatstheater bewiesen noch am Ende der
Spielzeit, daß Günther Weisenborn
als Dramatiker durchaus sein eigenes Profil hat, wenn auch
sein Spiel vom „Verlornen Gesicht" nach Victor Hugos Roman „Der lachende
Mann" wesentlich von der Substanz des Dichters lebt, nämlich von Weisenborns Geschick, der These vom „Verlorenen Gesicht
der Menschheit" dramatisches Leben einzuhauchen. Hannes Fischer hatte
mit ebenso viel Liebe und Umsicht Regie
geführt, wie die Darsteller seinen und den Intentionen des Autors
gefolgt waren: ein Theater des Symbols,
leicht und graziös, bitter und derb,
manchmal wie ein schöner, bunter, prall gefüllter Luftballon.
Der Sprung zum „Tollen Lamm" in Senftenberg ist
nicht leicht. Er muß getan werden; denn dort hatten wir die Bestätigung gefunden, daß selbst an den „kleinen Theatern" Schauspielkunst
nicht klein geschrieben werden muß.
Dieses „tolle Lamm" von
Aurel Baranga war gewiß nicht wohlgenährt, eher mager was dramatische Substanz betrifft, aber Horst Schönemann hatte durch den Stil
seiner Inszenierung, durch die Überhöhung
ins Satirisch-Groteske dem Stück zum Erfolg verhelfen.
*
Müssen wir am Schluß unserer
Betrachtung deren Untertext formulieren? — Theater in Bewegung kann uns nicht genügen, wir brauchen bewegendes Theater als Spiegelbild unserer so überaus bewegten Zeit.
SONNTAG, 15. Juli 1956