„Vor Sonnenaufgang“ von Gerhart Hauptmann am Deutschen Theater Berlin,
Regie Andreas Kriegenburg
Das Dogma obsiegt
Der Hummer war echt, schien mir. Ansonsten wurde gemogelt im Deutschen Theater. Auf dem Speisezettel fürs Publikum stand Gerhart Hauptmanns soziales Drama »Vor Sonnenaufgang«, serviert jedoch wurde eine Psychogroteske. Daher sei gewarnt, wer des Dichters frühes naturalistisches Milieu-Stück aus tiefer schlesischer Provinz erwartet. Wer hingegen marionettenhaft getrimmte, vom Kabarett oder vom Commedy-TV geprägte Typen liebt, dem sei Andreas Kriegenburgs neueste Berliner Inszenierung empfohlen.
Der renommierte Regisseur - an der Berliner Volksbühne reüssiert, inzwischen
auch am Wiener Burgtheater zu Hause - versteht das Handwerk kunstvoller
Verfremdungen. Mit Phantasie, Geschmack und Verständnis für überkommene
Theaterfiguren filtert er aus deren widersprüchlichen literarischen Existenz
ihm wichtig scheinende, möglicherweise die heutige Öffentlichkeit angehende
Züge und stellt sie auf der Bühne extrem aus.
Was ist aktuell brauchbar aus Hauptmanns 1889 einst rücksichtslos
tabubrüchigem Erstling? Verschlissen ist, fand Kriegenburg, die sentimentale
Moralisierung um die vom Vater missbrauchte Helene. Von der Wirklichkeit
gnadenlos entzaubert sind die idealistischen Weltverbesserer-Ideen des
Sozialutopisten Alfred Loth. Durchaus virulent hingegen sind nach wie vor
protzige Borniertheit von Neureichen, Inzest und Alkoholismus. Diese
Ingredienzien hat der Regisseur aus dem schlesischen Bauern- und Bergarbeiter-Milieu
herausgelöst, komprimiert und in einer abstrakten Kulisse zu einer
defätistischen Psychogroteske montiert.
Deren szenischer Höhepunkt: Alfred Loth, erstarrt
sitzend, wie zur Hinrichtung auf elektrischem Stuhl festgeschnallt. Soeben hat
er vom Alkoholismus in der Familie seiner Angebeteten erfahren. In ihm tobt ein
Kampf zwischen Liebe zu Helene und Anschauung über Erbkrankheiten. Das Dogma
siegt. Verzweifelt beschwört er sich selbst: »Immer weiter kämpfen! Immer
weiter kämpfen!« Wobei Einfühlung stattfindet.
Kriegenburg hat offenbar im Verlaufe der Proben-Arbeit empfunden, dass
Distanzierung pur nicht taugt. Das überzogen marionettenhafte Gehabe und
Getrippel zur Musik (Laurent Simonetti) jedenfalls, womit er die Gestalten in
einem schaurig roten Salon (Symbol für eine Villa von Neureichen, entworfen von
Bühnenbildnerin Johanna Pfau) loslegen ließ, verliert sich im Verlaufe der
Vorstellung. Wahrscheinlich behaupteten sich die Darsteller, auch Hauptmanns
Text und letztlich des Regisseurs gesunder Sinn für beredtes Spiel. Die anfangs
wirr und steif umherhastende Gesellschafterin der Frau Krause, die blond perückte
Frau Spiler (Cornelia Schirmer), sitzt am Schluss ruhig auf einem Stuhl und
sülzt einfältig vor sich hin.
Ich kann nicht sagen, dass ein zwingender Theaterabend
entstanden wäre. Drastisch grobkörnige Schauspielerei, garniert mit
akrobatischen Kunststückchen, hat gewiss ihre Reize. Mir ist der Spaß im
Grotesken zu oft äußerlich angeschafft, manchmal gar zu läppisch. Ich erinnere
an die Stammel-Arie des Wilhelm Kahl (Tim Lang), des Neffen der Krause, der
stotternd über Tisch und Stühle zu klettern hat. Bei dieser Gestalt wäre wohl
wichtiger gewesen, deren heimliche Intimität mit der Hausherrin zu akzentuieren,
die von Gudrun Ritter im Übrigen souverän als herrschsüchtige Schlampe
vorgestellt wird. Auf dickem Hintern sitzend mampft sie Hummer und giftet
nebenher gegen Helene.
Das redlich-treuherzige Fräulein Helene wird von der schlanken Claudia
Geisler wahrhaft diskret vorgeführt. Tapfer und bescheiden hat sich dieses
zarte Mädchen mit dem launigen Schicksal arrangiert, den zudringlichen,
alkoholabhängigen Vater (Horst Hiemer in dezenter Studie) erduldet; nun keimt
Lebenshoffnung in ihrer sie überraschenden Liebe zu dem exotischen Gast, dem
Sozialforscher Alfred Loth.
Zu Kriegenburgs Stil gehört hier, bestimmte Szenen nebeneinander und damit
gegeneinander zu stellen. Das romantische Liebesgeständnis zwischen Helene und
Alfred, das er ohnehin humorvoll frisch anlegt, bricht er zusätzlich grotesk mit
der simultan ablaufenden stummen Lust der Magd Miele (Katrin Klein), die es mal
nebenbei dem jungen debilen Baer (Tim Lang) besorgt. Wobei in diesem Falle die
Gestalten in einem besonderen Guckkasten wie Puppen hinter einer Spielleiste agieren.
Ob hinter der Spielleiste oder im roten Spielsalon - die Haupttypen
tendieren zu
Figuren,
insbesondere der in die eigenen Grundsätze verstrickte Loth und dessen
ehemaliger Freund Hoffmann, der durch geschickte Machenschaften zu Reichtum gekommene
Ingenieur. Hoffmann ist in der Gestaltung von Udo Kroschwald ein dickleibiger,
wendig behänder systemkonformer Schlauberger. Bernd Stempel gibt den Alfred
als ungelenk naiv und unverzagt ideologiegläubig. Wenn die beiden wacker ihre
Lebensansichten positionieren, scheint jeder von ihnen auf seine Weise auf
guter Tour. Nur einer übertrumpft sie noch: Doktor Schimmelpfennig. Michael
Schweighöfer spielt in bester Manier einen sunny Frauenarzt von unschlagbar cooler
Lebensgewieftheit.
Neues Deutschland, 27. Juni 2004