„Vor Sonnenaufgang“ von Gerhart Hauptmann am Berliner Ensemble, Regie Christoph Schroth

 

 

 

Die tödliche Wirkung ideologischer Borniertheit

 

Hat sozialkritische Dramatik noch eine Chance? Gar wenn sie über 100 Jahre alt ist? Am Berliner Ensemble holte Christoph Schroth, dem Vernehmen nach designierter Intendant des Staatstheaters Cottbus, mutig Gerhart Hauptmanns Erstling, das soziale Drama „Vor Sonnenaufgang", ins realistische Rampenlicht. Von Bühnenbildner Lothar Scharsich obendrein per leuchtendem Bühnenboden inmitten eines kargen Bauernhofes besonders illuminiert und also gemeinsam naturalistischer Tristesse entrissen.

Das Stück, „Flaggschiff" des deutschen Naturalismus, war 1889 von der „Freien Bühne" Otto Brahms intern uraufgeführt worden, weil des jungen Dichters rückhaltlos wahre Schilderungen des Lebens eine öffentliche Aufführung im kaiserlichen Deutschland nicht zuließ. Rasender Tumult, wie damals in Berlin, blieb diesmal logischerweise aus. Man kennt all die Probleme irgendwie. Aber immerhin, das Werk, von der Regie getreu in Szene gesetzt, macht Eindruck.

Vielleicht habe ich mir noch immer zuviel Neugier bewahrt für auf der Bühne konkret und gekonnt gespielte soziale Konflikte. Sauber gezeichnete Figuren, Menschen vor allem sind es, die sich mir einprägten.

Adolf Loth beispielsweise. Ein Sozialreformer, von Martin Seifert kongenial gespielt. Man kann diesen kläglich versagenden, unfreiwilligen Dogmatiker des Fortschritts von vornherein ironisch bloßstellen und bei der Gelegenheit die ganze Bewegung in Mißkredit bringen. Seifert tut das nicht. Er gibt sehr differenziert, sehr einfühlsam den eigensinnigen, etwas verkrampften Einzelgänger, den lauteren Anhänger utopisch-sozialistischer Ideen. Verbal engagiert der sich für das Wohl und Wehe der schlesischen Bergleute, doch als es praktisch um einen Menschen geht, um die geliebte Helene, opfert er sie seinen Grundsätzen. Wie schwer, wie schier unmöglich ist es, über den eigenen Schatten zu springen, geistige Vorurteile abzulegen.

Übrigens keineswegs überholt, das Problem! Wir erleben in der Gegenwart zur Genüge, wie gar nicht es diesem und jenem Politiker gelingt, neu zu denken und lang und gern gehätschelte Feindbilder abzubauen.

Dieser Alfred jedenfalls nimmt Quartier im schlesischen Witzdorf, wo die Bauern wegen der Kohlevorkommen auf ihrem Land ungewöhnlich reich geworden sind. Über die Lage der Bergarbeiter will er eine wissenschaftliche Denkschrift verfassen. Er wohnt bei einem Jugendfreund, dem Ingenieur Hoffmann, welcher die Tochter Martha des neureichen Gutsbesitzers Krause geheiratet hat, im Bergbau-Geschäft sehr gut verdient und nun fürchtet, von Loth öffentlich angeprangert zu werden. Freundschaft schlägt um in argwöhnischen Haß. „Klassenkampf" auf dem Gutshof.

Hineingerissen wird Helene, des Krause zweite Tochter. Aus einem Herrnhuter Mädchenpensionat ist sie direkt in die Hände ihres ständig volltrunkenen Vaters geraten, auch der Zudringlichkeit ihres Schwagers muß sie sich erwehren. Sie sieht in Loth den geliebten künftigen Mann, öffnet ihm scheu ihr wundes Herz. Und wird von ihm prompt verlassen, als er erfährt, daß sie das Kind einer Trinkerfamilie ist - die Grundsätze eben.

Gabriela Maria Schmeide stellt diese Helene mit sensibler Virtuosität hin als eine vitale, naive, zu sich selbst findende Frau. Kein Ton wiederholt sich, jede Geste stimmt.

Frau Schmeide und Herr Seifert spielen sich mit diesen Figuren an die Spitze des derzeitigen schauspielerischen Angebotes in Berlin. Man sollte sie gesehen haben, aber auch Götz Schulte als taktierenden Ingenieur Hoffmann, Nadja Engel als megärenhafte Frau Krause, Barbara Bachmann als versoffene aristokratische Gesellschafterin, Veit Schubert als gefährlichen Stiesel Wilhelm.

Vor Sonnenaufgang bringt sich Helene um. Ein Opfer ideologischer Borniertheit. Wie viele sind es inzwischen?

Zur Premiere beachtlicher Beifall.

 

 

 

Neues Deutschland, 10. Juni 1992