„Sommergäste“ von Maxim Gorki am Staatstheater Dresden, Regie Horst Schönemann

 

 

 

Fortführung einer großen Tradition

 

Maxim Gorki gehört zu den Dramatikern, an denen sich Theater immer wieder versuchen müssen, um die psychologisch sensible und sozial konkrete Menschendarstellung als Grundlage und Gütesiegel ihrer Arbeit zu begreifen. Am Deutschen Theater in Berlin hat Wolfgang Heinz über Jahrzehnte ein noch heute gültiges Beispiel gegeben — mit „Somow und andere" 1954, „Die Kleinbürger" 1957, „Sommergäste" 1959, „Feinde" 1967 und „Kinder der Sonne" 1977. Am Staatsschauspiel Dresden hält jetzt Horst Schönemann mit seiner Inszenierung der „Sommergäste" diese Tradition lebendig, indem er sie, internationale Anregungen aufnehmend, weiterentwickelt.

1959 bei Wolfgang Heinz prägte das erklärte Bemühen um Wirklichkeits- und Detailtreue das Bühnenbild wie das Spiel. 1975 brachte Peter Stein an der Westberliner Schaubühne (bei einem Gastspiel in Karl-Marx-Stadt zu erleben) ein echtes Birkenwäldchen auf die Bühne; verlangte adäquat dazu präzis natürliches Figurenverhalten. Bei Georgi A. Towstonogow 1976 in Leningrad gaben zwei mächtige Birkenstämrne und ein sattes Grün der Szene dem feinsinnigen Spiel der Akteure einen rustikalen Hintergrund. Aber auch hier war das Illusionstheater vorherrschend, die unmittelbare Poesie der scheinbar in aller Realität sich vollziehenden Handlung.

In Dresden 1987 sucht Horst Schönemann bewußt und a prio eine Kunstebene. Dramaturgin Ute Baum schrieb eine dienliche Übersetzung. Bühnenbildner Frank Hänig baute große, in Weiß gehaltene Pflanzenvolieren, die dem Spielraum einen eigenen Zauber geben, Idyll und Irrgarten sind.

Gorkis reiche, vorbehaltlose Auskünfte über das Menschsein sind es, die bis heute herausfordern. Gerade bei diesem Schauspiel aus dem Jahre 1904. Kleinbürgerliche Ärzte, Ingenieure und Schriftsteller der russischen Gutsbesitzergesellschaft genießen mit ihren Frauen ihre paradiesischen Landsitze, ohne das Grollen der nahenden Revolution von 1905 zu spüren. Zweifelsohne verdienen sie sarkastische Kritik. Der Autor legt sie den Wächtern Pustobaika und Kropilkin unüberhörbar in den Mund. Aber er diffamiert seine Gestalten nicht. Und auch Horst Schönemann inszenierte keine vordergründige Verurteilung.

Der Regisseur schildert die schmarotzende Lebensweise der Bühnenfiguren ebenso wie deren aufbrechenden Lebensanspruch. Zwar streben sie nach Abgeschiedenheit und Ruhe, aber unfreiwillig spüren und benennen sie die Unerfülltheit ihres Daseins.

Warwara, Frau des Rechtsanwaltes Bassow, rettet sich in anhaltendes, wenngleich fruchtloses Räsonieren. Als ihre heimliche Liebe, der Schriftsteller Schalimow, sich als ein „ganz normaler" Mensch entpuppt, zerbricht eine Illusion, die ihr Halt gegeben hatte. In der Gestaltung von Hannelore Koch wird eine blasierte Noblesse akzentuiert, mit der das verbale Aufbegehren dieser Frau einen fad-bitteren Beigeschmack bekommt.

Ihr Gatte Sergej Bassow, ein Trinker zwar, aber vital und lebenspraktisch ansonsten, repräsentiert in strotzender Gesundheit die Prosperität des Bürgerstandes. Jochen Kretschmer spielt diesen Mann mit Verve als einen bärbeißig-umgänglichen, cleveren Kerl, der mit seiner unverdrossen-drastischen Art seine übersensible Frau irritiert und frustriert. Behutsam deutet die Regie die Komik an, die von diesem Paar ausgeht.

Den Schalimow gibt Arno Wyzniewski (als Gast) als einen mit Würde gealterten Schriftsteller, der Anzeichen einer neuen Zeit zwar registriert, ihnen aber nicht gewachsen ist und daher resigniert, was er mit leiser Ironie verspottet.

Als einen jungen Mann, der seine Aufsässigkeit hinter clowneskem Gebaren verbirgt, zeichnet Christoph Hohmann den Wlass. Dessen Hoffnung, eine Liebe zu der schon älteren, progressivem Denken zugeneigten Ärztin Marja (Helga Werner), scheitert an der in Liebesdingen konventionell Zögernden. Anne-Kathrein Kretzschmar fällt auf als sinnenfrohe Julia, Rudolf Donath als herzhaft-naiver Onkel Semjon, Justus Fritzsche als unerschrockener Ingenieur Susslow.

Der Eindruck dieser Gorki-Aufführung ist bleibend tief, und das gewiß nicht nur wegen des reizvollen Widerspruchs zwischen der unbeschwerten Idyllik der Szene und den kontroversen Debatten der Akteure. Da räkeln oder tummeln sich Egoisten, Zyniker, Sattbequeme und Tatendurstige. Da lebt auch Allgemeinmenschliches mit auf, das über die Zeiten hinweg unsere kritische Aufmerksamkeit verdient.

 

 

 

Neues Deutschland, 31. Dezember 1987