8. Der neue Darsteller
(1951-1962)
Friedo Solter
8.5 Friedo Solter wird Regisseur
«Die gesunde Natur»,
sagte Max Reinhardt, «ist nicht
wehleidig. Es kann ihr nichts geschehen.» (8.66) Es spricht für die starke Persönlichkeit und das Talent
des 1933 geborenen Friedo Solter, dass er sich an den Entgegensetzungen im Verlaufe des Studiums aufbaute und trotz
„Gralshüterei“ (Brecht) behauptete.
Der Absolvent des Jahres 1955 ging
zunächst zu Horst Schönemann nach Senftenberg an das dortige Theater der Bergarbeiter, wechselte von da nach Meiningen und wurde 1959 von Wolfgang Langhoff ans Deutsche Theater geholt. Er spielte den Just in
Friedo Solter (r.) als Just in
„Minna von Barnhelm“ von Lessing mit Hans-Peter Minetti als Tellheim im
Deutschen Theater Berlin 1960
dessen Inszenierung der Lessingschen «Minna von Barnhelm» — Premiere war am 30. März 1960 — und noch im gleichen Jahr den Erdmann in der Uraufführung der «Holländerbraut» von Erwin Strittmatter. «Friedo Solters Heinrich Erdmann ist klar umrissen, ein junger Faschist, der
nichts gelernt hat, nicht offen brutal,
aber hinterhältig und gefährlich.» (8.67)
1961 gab Solter den Söller in Goethes
«Die Mitschuldigen», 1962 besetzte ihn sein Intendant mit der Titelrolle in
«Wilhelm Teil».
Friedo Solter
als Wilhelm Tell 1962
Solter erfüllte die Erwartungen, er
hatte sich in Berlin durchgesetzt. Sein
darstellerisches Profil wird von nachdenklicher Bestimmtheit ebenso geprägt
wie von robuster Vitalität, von sinnenkräftiger Ausdruckskraft ebenso wie von
der Lust am Komödiantischen. Bei Solter trafen und treffen sich die genaue
Beobachtung und Wiedergabe des sozial-konkreten Verhaltens der Gestalt mit der
Erkundung und Ausdeutung ihres psychologischen Spektrums. Stets ist er auf der
Suche nach dem Widersprüchlichen einer Figur, das sie aufbricht, interessant
macht und ihre Besonderheiten erhellt. Sein Hofrat Podkelessin in Gogols «Die
Heirat», 1969 in einer Inszenierung von Hans-Diether Meves, wird so
beschrieben: «Was der Schaupieler... aus dem Gegensatz zwischen eingebildeter,
aufgeplusterter Bedeutsamkeit und einer unglaublich dummen Verstörtheit sowie
zwischen kraftmeierischer Angabe und kläglichem Willenszerfall herausholte an
täppischer, pantomimischer Eleganz, war aller Bewunderung wert. Vorgeführt
wurde die gleichsam zentnerschwere Grazie eines tumben, stolzierenden Bären,
der zappelt vor sinnlicher Genäschigkeit, beim ersten Kuß vor lauter Ungeschick
auf die Angebetete fällt und nach jeder halben Aktion sofort wieder von
wahnsinniger Angst gepackt wird.» (8.68)
Schon 1964 hatte Friedo Solter mit Hans-Diether Meves
zusammengearbeitet - damals beide Regie-Debütanten am Deutschen Theater —, als sie
Rosows «Unterwegs» zur Aufführung brachten. 1966 dann inszenierte er mit
Wolfgang Heinz in der Titelrolle Lessings Schauspiel «Nathan der Weise». Der
Erfolg bestätigte ihn endgültig als Regisseur.
Solters Stärke ist ganz ohne Zweifel seine kraftvolle Natürlichkeit,
gepaart mit politischer Wachheit und der Fähigkeit zu Klarheit und Einfachheit
im Umgang mit der Dramatik wie mit dem Publikum. Stets liegt ihm die
Nachvollziehbarkeit einer Geschichte am Herzen. Er ist ein Inszenator mit einem
praktischen, ursprünglichen Sinn für die Plastizität der Vorgänge eines Dramas
wie für dessen verborgene innere Dynamik, für die ästhetische Schönheit,
erwachsend aus der Dialektik von subjektiver Aktion und sozialer Abhängigkeit
der Charaktere. Beim «Nathan» zeigte er «Humanität als dem Leben abgerungene
praktische Leistung», (8.69) nicht als einen harmonischen,
gehobenen Zustand. Beim «Wallenstein», 1984 wieder in den Spielplan
aufgenommen, stellt er sich «souverän in den Dienst des Dichters, lotet in die
Tiefen des Kunstwerkes, erhellt die geistige Faszination dieses klassischen
Meisters deutscher Dramatik. Schillers Wallenstein-Porträt ist... dem
historischen Vorbild nahe, ein Charakterbild, schwankend in der Geschichte.
Eben zu dieser geschichtlich getreuen und poetisch reizvollen
Widersprüchlichkeit wird das Publikum als Zeuge geladen.» (8.70)
Die Erinnerung an seine Schulzeit verknüpft Friedo Solter
mit der Überlegung: «Mein Vorsprechprogramm für die Aufnahmeprüfung 1952 ist in
nuce noch mein heutiges Theaterprogramm. Ich hatte mir erarbeitet:
"Villon-Ballade", Brecht "Hofmeister"-Prolog, Gorki
"Nachtasyl" Aljoscha, Goethe aus "Faust" Valentin,
Mephisto, Schüler, Brecht "Legende von der Entstehung des Buches Taoteking",
ein Gedicht von Hedda Zinner ("An die Reinmenschlichen"), Text aus
dem "Dreigroschenroman" von Brecht.» (8.71)
Friedo Solter
(r.) mit Horst Ziethen
in der
Studioinszenierung “Die Rivalin ihrer selbst” von Tirso de Molina
Seine Erinnerung wird zur Forderung - an die Ausbildung,
an junge Schauspieler, an künftige Regisseure: «Meine Berliner Schulzeit war
die Zeit der Talentformung. Talent kann nicht erlernt werden, Talent kann nur
erweitert werden. Eine Schule ist immer gut, wenn sie die Neugier des Talents
erhält. Dazu gehört unerbittliches Wissenwollen, Wirklichkeitsbeobachtung,
Weltsicht, Positionen beziehen über Lesen, Lebenserfahrung, Begegnung,
Phantasieerweiterung!
Zur Talenterweiterung gehört Handwerk, gehören Techniken.
Das Phantasievolumen und mein Mitteilenwollen kann ich nur so artikulieren,
sinnlich konkret werden lassen. Ich will jetzt nicht die Unterrichtsfächer, die
1952 bis 1955 auf dem Ausbildungsplan waren, aufzählen. Aber eines ist mir klar
geworden: Der Regisseur sollte um die Möglichkeiten des Schauspielers wissen,
um sein Instrumentarium. Der Regisseur sollte wissen, was es für einen
Schauspieler heißt — Erfolg und Nichterfolg. Er sollte wissen, daß Erfolg die
Fähigkeit eines Schauspielers ins fast Unendliche multipliziert. Ein Regisseur
sollte erfahren haben, wie schwer es ist, die ersten Schritte zur Eroberung
einer Rolle zu tun. Der Regisseur sollte erfahren haben, was es heißt, sich zu
schämen. Diese Scham, die ein wichtiges produktives Element des
schauspielerischen Talents ist, löst je nach Veranlagung des Talents während
der Probenarbeit Aggression oder vorsichtiges Tasten bis zur Verunsicherung
aus. Dieses Wissen und diese Erfahrung des Regisseurs lassen die Haltung
weniger zu, daß der Regisseur den Schauspieler zum "Affen" macht. Es
ist gut, wenn der Regisseur im tiefsten Innern begriffen hat, daß der
Schauspieler am Abend die Vorstellung spielt und nicht der Regisseur. Die beste
Konzeption des Regisseurs geht nur mit und über den Schauspieler zu
verwirklichen.
Meine Ausbildung und Bühnenerfahrung berechtigen mich,
vom Schauspieler Standpunkt und Handwerk zu verlangen, wenn er sich nicht nur
zum Trainierten und Ausüber von Anweisungen erniedrigen will. Aber das Wichtigste: Begegnungen mit Persönlichkeiten aus
der Praxis, Leute, die wußten, was gebraucht wird, und vor allem, die durch
ihre Berufspraxis und durch ihre kämpferische Lebenserfahrung gegen Faschismus
sich mitteilten, ohne kleinlich, schulisch, pädagogisierend zu sein. Dr.
Litten, Regisseur, kam aus der Emigration (sein Bruder war der Jurist Litten,
der vor 1933 viele fortschrittliche Arbeiter verteidigte). Steffie Spira,
Schauspielerin, Kommunistin, kam aus der mexikanischen Emigration. Paul Dessau,
wir hatten eineinhalb Jahre Musikunterricht bei ihm, wir komponierten zusammen
mit ihm "Lilo Herrmann" von Friedrich Wolf. Heinar Kipphardt gab
eineinhalb Jahre Literaturgeschichte. Wolfgang
Langhoff-Praktikum in "Faust l". Ernst Busch spielte den Mephisto.
Szenenstudium bei W.E. Struck, Regieassistent bei Brecht, Szenenstudium bei
Rudolf Wessely, Ruth Baldor, Mathilde Danegger, Schauspieler am Deutschen
Theater. Probenbesuch bei Wolfgang Heinz und Bertolt Brecht. (Ich lief viele
Wochen in die Probebühne Reinhardtstraße des Berliner Ensembles.) Gespräche mit
Curt Trepte, Friedrich Wolf und Helene Weigel und Fritz Erpenbeck. Ich hatte
ein wichtiges Gespräch mit dem wunderbaren Matti der Brechtschen
"Puntila"-lnszenierung — Erwin Geschonneck. Ein wichtiges Gespräch
deshalb, weil Erwin Geschonneck mich, den werdenden Schauspieler, wie einen "ausgewachsenen"
Kollegen behandelte, ... Es entstand ein freundschaftlicher Kontakt über die
"Schulzeit" hinaus. Das Umfeld Berlin 1952-1955 war eine Schule mit
reichen Angeboten. Die politisch-künstlerische Entscheidung fand täglich für
jeden statt. Das Wichtigste für meine Lehrzeit war: Leute mit Rückgrat,
Zivilcourage, marxistischem, aber auf jeden Fall antifaschistischem Standpunkt
getroffen zu haben. Und außerdem waren sie Könner in ihrem
Fach.» (8.72)
Anmerkungen:
8.66 Max Reinhardt, Schriften,
a.a.O., S. 322 Zurück zum Text
8.67 Gerhard Ebert, Die Holländerbraut, Sonntag, Berlin 16.10.1960 Zurück zum Text
8.68 Christoph Funke, Theater mit allen sinnlichen Möglichkeiten - Friedo Solter, in: 100 Jahre Deutsches Theater Berlin, Berlin 1983, S. 346 Zurück zum Text
8.69 Ebenda, S. 347 Zurück zum Text
8.70 Gerhard Ebert, Realistische Charakterdeutung aus heutiger Lebenserfahrung,
Neues Deutschland 13.7.1984 Zurück zum Text
8.71 Brief v. Friedo Solter an G. Ebert v. 23.12.1985, Archiv G. Ebert Zurück zum Text
8.72 Ebenda
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