„Slawen!“ von Tony Kushner am Berliner Maxim Gorki Theater, Regie Uwe Eric Laufenberg

 

 

Der Wodka als Bremskraft

 

Die Völker der Sowjetunion, die der zivilisierten Welt mit ungeheuren Opfern an Menschen und Material halfen, den deutschen Faschismus niederzuringen, haben sich von der Weltbühne verabschiedet. Sie haben sich zurückgezogen in ihre nationalistischen Winkel, wo sie - jedes Volk stolz für sich - nicht mehr mit dem Sozialismus, sondern nunmehr mit der Marktwirtschaft experimentieren. Sie stört es daher kaum, daß ihre geschundene, vormals große Heimat von einstigen Freunden und ehemaligen Feinden mittlerweile unwidersprochen das „Reich des Bösen" genannt wird. Objektivität ist keine aktuelle Tugend.

Am Berliner Maxim Gorki Theater allerdings hatte jetzt ein Stück Premiere, dessen Autor ausdrücklich zum „Nachdenken über die althergebrachten Probleme von Tugend und Glück" auffordert. Mit seinem satirischen Schauspiel „Slawen!" berichtet er über das „Reich des Bösen" nicht in Haß und Häme, sondern mit einigem Verständnis. Noch bevor sich Dramatiker aus jenem sagenhaften, im Orkus verschwundenen Reich zu Wort melden (bisher Gelman mit „Mischas Party" im Renaissance-Theater), meditiert ein Amerikaner über das Scheitern des Sozialismus im Sowjetland. Tony Kushner, 1956 geboren in Manhattan, Sohn einer jüdischen Familie, Pulitzer-Preisträger, bekannt vor allem durch sein sozial-kritisches Schauspiel „Engel in Amerika", sieht die Gründe für das historische Debakel im spirituellen Genius der slawischen Völker. Die waren sozusagen schon wegen ihrer charakterlichen Eigenschaften, wobei das Wodka-Trinken möglicherweise die kritikwürdigste ist, gar nicht in der Lage zu vollenden, was ihnen der Rote Oktober und Lenin historisch in den Schoß gelegt hatten. Derlei Legende wird wissenschaftlich nicht haltbar sein, ist aber brauchbar für ein bewegendes Theaterstück.

Kushner führt zunächst die geriatrische Senilität der Funktionäre vor. Eine Satire von gespenstischem Zuschnitt. März 1985. Vorraum zum Saal des Obersten Sowjets im Kreml. Prelapsarianow, der älteste lebende Bolschewik der Welt, Politbüro-Mitglied in uneinschätzbarem Rang, stapft Schritt für Schritt und mit letzter Kraft zu einem Sessel. Eben hat er im großen Saal, unterbrochen von aufmüpfigen Delegierten, mit noch kräftiger Stimme ein abstraktes Loblied auf die Theorie gesungen, unfähig, die Praxis zu analaysieren, hoffend auf eine nächste wunderbare Theorie. Jetzt ist er sterbenskrank. Mit feinster Ironie gibt Albert Hetterle diesem fast erblindeten lebenden Leichnam, sowohl bei dessen Rede als auch bei dessen Versuch, noch einen Tee zu trinken, bornierte Selbstsicherheit und unendliche Sturheit. Das ist schauspielerisch exzellent.

Schon hier wird spürbar, daß da auch ein subtiler Regisseur am Werke war. Der 1960 in Köln geborene Uwe Eric Laufenberg, bisher in Frankfurt/Main und Zürich tätig, sich auf Zadek und Schleef berufend, beweist realistischen Sinn für Historie und Komik im Theater. Das heißt, er macht nicht auf Satire, sondern entwirft mit Genauigkeit Realität und legt just damit satirisch bloß, was in der Führungs-Crew der Sowjet-Gesellschaft an menschlicher Unsäglichkeit gewachsen war und sich unantastbar etabliert hatte. Die erfahrenen Schauspieler steuerten ihre Beobachtungen bei. Gerd Michael Henneberg gab das greise Politbüro-Mitglied Upgobkin, einen optimistischen Mann in den Achtzigern, der mit seiner Methode des Hinweg-Hüpfens über die Wirklichkeit ums Leben kommt. Dann Hilmar Baumann als Smukow, Mitglied des Politbüros, hoch in den Siebzigern, pessimistisch, aber unerschrocken.

Wenn der erste Akt des Stücks an Majakowski erinnert, an dessen beißenden Spott, so scheint mir der zweite ein echter Kushner. Zwei Lesben lassen sich ihre zarten Beziehungen nicht durch die Wirren der Perestroika zerstören. Der hochrangige Funktionär Popolitipow, der der einen, nämlich Katherina (Jutta Masurath), einen Job als Sicherheitsbeamtin sowie Wodka und Zigaretten verschafft hat, fleht vergebens um Liebe. Hansjürgen Hürrig gibt ihn als einen resoluten Mann, der, früh elternlos, durch die Partei geworden ist, was man einen Apparatschik nennt. Immer bereit für die nächste Aufgabe, eng im Denken, doch mit unverbrauchter Sehnsucht nach dem Weib. Katherina nutzt ihn aus und weist ihn ab. Sie will, daß es ihr die Ärztin Bonfila (Ruth Reinecke) besorgt, die nicht an Lesben glaubt, aber nach wie vor an die Arbeiterklasse. Das bringt der Krebsspezialistin im Verlaufe der Perestroika einen Platz ein an einem medizinischen Institut in Sibiren.

1992. Talmenka in Sibirien. Kushner, nun schonungslos aufdeckend wie Weiss oder Hochhuth, bringt im dritten Akt Nachwirkungen sowjetischer Atom-Politik auf die Bühne. Bonfila kann ein krebskrankes Kind nicht retten. Dessen Mutter (Ursula Werner) klagt an. Der aus Moskau zur Sondierung erschienene Unterstaatssekretär Nagerow (Ulrich Anschütz) windet sich, entpuppt sich mit Hitler-Gruß als Anhänger der liberal-demokratischen Partei. Worauf er bei der Mutter wie bei Bonfila und deren Gespielin abblitzt. Das Kind indessen kommt in den Himmel.

Dort - dies der Epilog, wieder ein echter Kushner - sitzen die alten Haudegen Prelapsarianow und Upgobkin beim Kartenspiel und räsonieren. Sie hatten mehr vom Leben nach dem Tode erwartet. Nun bringt das Kind den Großvätern, die sich weigerten, auf die Erde zu schauen, die Nachricht vom Scheitern des Sozialismus in der ehemaligen Sowjetunion. Also gibt es „keine vorstellbare Alternative zu den Verheerungen des Kapitals" mehr. Worauf sich Prelapsarianow taperig erhebt, langsam zum Publikum schreitet und verzweifelt fragt: Was tun?

Die Inszenierung im Bühnenbild Christoph Schubigers kann sich sehen lassen. Auf das Vorspiel im Foyer ließe sich verzichten. Und die Botschaft des Kindes gehört an die Rampe. Ansonsten zu Recht Bravo-Rufe und anhaltender Beifall.

 

Neues Deutschland, 10. Oktober 1995