„Sibirien“ von Felix Mitterer am Burgtheater Wien, Regie Franz Morak

 

 

 

 

„Man überlebt nur mit Bestechung“

 

Jubel um Fritz Muliar am Berliner Schlosspark-Theater. Der gefeierte Gast vom Wiener Burgtheater spielt in Felix Mitterers Monolog „Sibirien" einen alten Mann, der von seinen Angehörigen gnadenlos in ein Altenheim eingeliefert wurde und sich dort, nur weil er menschliche Ansprüche stellt, als Querulant unbeliebt macht. Hilflos ist er dem Mechanismus der modernen staatlichen „Todesfabrik" ausgeliefert.

Felix Mitterer, der 1948 geborene „Tiroler Sturschädel", scheut sich nicht, soziale Mißstände anzuprangern. Am spektakulärsten wohl war bisher sein Volksstück „Munde". In 2500 m Höhe auf dem Gipfelplateau des am Inntal gelegenen Berges Hohe Munde aufgeführt, sozusagen unübersehbar, wurde es das österreichische Theaterereignis der Saison 1990/91, ein dramatischer Affront gegen bornierte Ausländerfeindlichkeit.

Zu „Sibirien" hat den Autor offenbar der makabre Wiener Krankenhausprozeß angeregt, bei dem zutage kam, wie tödlich grausam die Pflegerinnen mit ihrem siechen Patienten umgingen. Hier erzählt Mitterer von den letzten Lebenstagen eines Veteranen, der sich bei einem Sturz die Hüfte angeknackst hat und trotz zähen Willens nicht wieder auf die Beine kommt. Der Alte kennt sich aus: „Man überlebt nur mit Bestechung", sagt er. Die mühseligen, tapferen Gehversuche werden ihm unmöglich gemacht. Man nimmt ihm die Krücken weg. Er kann das Pflegepersonal nicht mehr spicken, weil er sein Erspartes in seniler Liebe seinem Sohn vermacht hat. Obwohl der ihn herzlos aus der eigenen Wohnung hinaus und ins Altenheim verfrachten ließ.

Helle Sonne scheint jetzt kalt in das kahle Zimmer (Bühnenbild Herbert Kapplmüller), der letzten Bleibe. Das Bett für den Kranken ist ein metallenes Monstrum, zu hoch selbst für einen gesunden Menschen und durch seitliche Gitter wie ein Käfig einzurichten. Eingesperrt fühlt sich der Senior wie damals als Kriegsgefangener, als er nach Sibirien deportiert wurde. Dort konnte er wenigstens noch etwas lernen, russisch, Schach. Jetzt ist er abgeschrieben, ausgemustert, von den Angehörigen, von den Pflegerinnen.

Regisseur Franz Morak zeigt Krankenschwestern, die resolut geschäftig ins Zimmer stürmen, den Kranken wortlos und unpersönlich versorgen und prompt wieder davonrauschen. Verhallende Schritte, Türenknallen. Einsamkeit. Die der Eingesperrte mit Selbstgesprächen bekämpft und mit Debatten mit fiktiven Besuchern. Er resümiert sein Leben.

Mit empfindsamer Hingabe, der man sich nicht entziehen kann, spielt der 73jährige Muliar einen im Grunde urgemütlichen Wiener, der sich freilich nicht zufällig selbst immer wieder einen Choleriker nennt. Ein borstiger Alter ist er also auch, deftig raunzend, selbstbewußt aufmüpfig, gegen das Leiden ankämpfend, doch enttäuscht und verzagend immer mehr in sich hineinkriechend. Einen flehentlichen Brief ob der Mißstände schreibt er noch an den Bundespräsidenten. Ergebnislos. Muliar lebt alle psychologischen Schattierungen dieses alten, vom Dasein zornig Abschied nehmenden Menschen. Ein identifizierendes Schauspielen, wie es selten geworden ist. Der Jubel war daher so verständlich wie verdient.

 

 

 

Neues Deutschland, 30. Januar 1992