„Der gute Mensch von Sezuan“ von Bertolt Brecht in der Berliner Volksbühne, Regie Andreas Kriegenburg
Spektakel um die Krone der Schöpfung
Am vergangenen Wochenende zog es vor allem junge
Zuschauer in die Berliner Volksbühne. Die Namen Bertolt Brecht, Gottfried Benn
und Arnolt Bronnen lockten. Drei Dichter unter einem Dache vereint, wozu sie zu
Lebzeiten schwerlich zu bewegen gewesen wären. Auch heute steht eigentlich jeder
noch am besten für sich. Doch als Zugpferde für anregendes Theater, für
originelle Blicke auf Mensch und Welt, lassen sie sich schon mal gemeinsam vor
den Thespiskarren spannen.
Im Großen Saal gab es Brechts Schauspiel
.„Der gute Mensch von Sezuan". Benno Besson hat das seit 1943 vorliegende
Stück mit Ursula Karusseit als Shen Te an diesem Haus inszeniert, als
kapitalistische Ausbeutung hierzulande für immer überwunden schien. Als die
Zeit um ein Jahrhundert zurückgedreht wurde, rückte Alejandro Quintana am
Berliner Ensemble das einst ferne Märchen 1991 wieder nah. Es war neuerlich von
bitterer Aktualität. Inzwischen ist die Realität bitterer als Brechts Poesie. Wahrscheinlich
deshalb machte Regisseur Andreas Kriegenburg das Werk zu einem hektischen
Agitprop-Stück. Kein Märchen, keine Poesie.
So richtig und gut die Entscheidung für den
Spielplan ist, die Wahl der Mittel - äußerliche, simple Mittel, fast Klischees
schon, mit denen Theaterleute heutzutage gern rauhe Wirklichkeit darzustellen
pflegen - möchte ich in Frage stellen. Just bei Brecht auf dem sozial konkreten
Gestus zu verzichten, eine seiner wesentlichen schauspielästhetischen
Entdeckungen, ist fatal. Die Schauspieler agieren mit allgemeinen, meist
drapierenden Gebärden. Statt beredter Haltungen oft demonstrierendes Gehabe.
Ungestisches Spiel verhunzt das Sprechen bis zur Unverständlichkeit.
Anfangs scheint Brechts wunderbar einfache,
dialektische Poesie aufzublühen. Isabella Parkinsons Shen Te tritt ans Mikrofon
als eine noch halbwüchsige kleine Hure und wirbt liebreizend und auch schon ein
wenig verworfen um Freier. Da kommt neben ihr ein Konkurrent auf den Markt,
Wasserverkäufer Wang (Stephan Richter). Die Situation wird komisch gebrochen
durch den Auftritt der Götter, hier verschmähte Bräute, scheint es, senile Göttinnen
(Gisela Morgen, Marga Platow, Rosemarie Bärhold), die dem Auftrag ihres obersten
Herrn schlampig nachgehen.
Leider aber verliert sich Poesie in
Profanität. Sie erstirbt in dem monströsen grauen Mauer-Geviert, das Bert
Neumann auf die Drehbühne montierte und Torsten König miserabel ausleuchtete. Shen
Te darf hier keinen kleinen Laden haben. Sie muß in einem riesigen Raum hausen,
in dem sich darstellerisch eigentlich nichts über sie erzählen läßt. So ist die
junge Isabella Parkinson überfordert. Als gute Shen Te, durch die Götter, die
sie aufnahm, zu kleinem Vermögen gekommen, nun in rotem Jäckchen, weißem Rock
und weißen Stiefeln, sieht sie schmuck aus wie ein Show-Girl. Als ihr böser
Vetter Shui Ta in grauem Anzug verwandelt sie sich zum normalen Bürger. Doch die
Figuren sind darstellerisch kaum voneinander abgesetzt, verschleißen sich. Ihre
geistige Vitalität wird nicht ausgespielt. Der Monolog Shen Tes, in dem sie als
werdende Mutter glücklich vom wachsenden Kind in ihrem Leibe träumt, eine
Kernszene humanistischer Botschaft in der Weltdramatik, wird ihr gar genommen,
wird von der Witwe Shin (Astrid Meyerfeldt) gefühllos gekreischt.
Immer wieder läßt die Regie auch bei anderen
Gestalten Verarmung zu. Sobald ein Konflikt ausgetragen wird, haben die
Darsteller zu brüllen. Ob stellungsloser Flieger Sun (René Steinke), ob sponsernder
Frisör Shu Fu (Peter Rene Lüdicke), ob übers Ohr gehauener Schreiner Lin To (Winfried
Wagner), sie operieren vornehmlich mit Lautstärke. Klaus Mertens fällt auf. Er brüllt
nicht, obwohl er als Polizist Gelegenheit hätte. Er läßt Gedanken entstehen,
hat Gespür für die Sinnlichkeit der Sprache.
Der Schluß immerhin ist noch einmal
erzählerisch. Shen Te konnte nicht gut sein zu sich und zugleich zu anderen. In
ihrer Tabakfabrik „Ost" muß geschuftet werden. Aber ihr Trick in der Not,
ihre Verkleidung als Vetter Shui Ta wird entdeckt. Die Götter, nun ihre
Richter, faseln erschöpft von Ordnung. Shen Te, das deutet Isabella Parkinsons
Spiel an, wird sich wieder verkaufen müssen!
Der Beifall war durchsetzt mit Buh-Rufen für
den Regisseur. Einhellig war danach die Zustimmung zu dessen Tanzpantomime zu
dem Motto „Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch". Kriegenburg
wetteifert da mit Johann Kresnik, investiert viel Phantasie, viel
choreographisches Geschick. Der nihilistische Melancholiker Gottfried Benn wird
vorgestellt als aufmüpfiger Ironiker. Seine Gedichte werden durchweg plastisch
vorgetragen und mit tänzerischer Akrobatik umrahmt. Anziehung und Abneigung,
Liebe und Haß im ewigen Hin und Her zwischen Gott und der Welt, Akte komischer
Sinnlosigkeit, überzeugend in die Sprache der Körper übersetzt. Mit Lob zu nennen
Alit Aryani, Anna-Maria Dittrich-Sztolyka, Carolin Mylord, Peter René Lüdicke, Gerd
Preusche, Torsten Ranft, Winfried Wagner.
Im 3. Stock schließlich eine Begegnung mit
Arnolt Bronnens „Exzessen" aus den zwanziger Jahren. Da hat einer seinen
Jungmänner-Trieb zur einer existentialistischen Groteske ausgelebt. Heutzutage
kein Anlaß mehr für einen Skandal, eher für gewitzt ironische Draufsicht.
Harald Warmbrunn als Herr Karl zwischen zwei Jungfrauen hat den trocken
sarkastischen Ton, der insgesamt passabel gewesen wäre. Jetzt tobt sich unter
der Regie von Werner Tritzschler identifizierende Spiellust ungehemmt aus.
Die geilen Jungfrauen: Hildegard bei Kathrin
Angerer ein kokettes frühreifes Pflänzchen. Anni bei Susanne Wagner eine
verbissen um Aufmerksamkeit buhlende Dirne. Und Joki, die Frau zwischen drei
Männern: Bei Meral Yüzgülec von elementarer Weiblichkeit. Nicht nur schön
anzusehen. Wirklich zum Verlieben. Kein Wunder, daß sie aus Lois (Horst Günter
Marx), Peppo (Kurt Naumann) und Max (Joachim Schweizer) reine Narren macht.
Nebenher knallig ein wenig Sozialkritik am verwerflichen System, welches
vertreten ist durch das Büro (Hildegard Alex, Dietmar Huhn) und den Chef (Uwe
Steinbruch). Ein strippiges Gaudi für Feinschmecker. Allerhand los in der Volksbühne.
Neues
Deutschland, 15. März 1994