„Der Selbstmörder“ von Nikolai Erdman am
Berliner Ensemble, Regie Manfred Wekwerth
Die erschröckliche Läuterung des Bürgers Semjon Podsekalnikow
Mitten in finsterer Nacht schreckt der
stellungslose Semjon Podsekalnikow seine Frau Maria aus dem Schlaf und fragt
nach Leberwurst vom Abendessen. So prosaisch beginnt „Der Selbstmörder",
ein Stück des sowjetischen Dramatikers Nikolai Erdman (1902-1970), das Manfred
Wekwerth jetzt am Berliner Ensemble inszeniert hat. Es pendelt zwischen
deftigem Schwank und bissiger Satire.
Maria holt die Leberwurst. Aber Semjon hat keinen Appetit mehr. Statt dessen unterstellt er dem Eheweib und der sich einmischenden Schwiegermutter, sie beide seien — weil er ein Mann ohne Gehalt sei — darauf versessen, seinen „letzten Seufzer" zu hören. Dieser Vorwurf mit der Drohung sich umzubringen, lediglich als Seitenhieb für den Familiengebrauch gedacht, wird von windigen Zeitgenossen aufgegriffen und als „Selbstmordabsicht" kolportiert. Für eine satirische Komödie eine durchaus passable Exposition.
Die Geschichte entstand 1928, am Beginn des
zweiten Jahrzehnts der jungen Sowjetmacht, zu einer Zeit, da sich auch andere
Autoren wie Bulgakow („Sojas Wohnung", 1926) oder Majakowski („Die
Wanze", 1929; „Das Schwitzbad", 1930) kritisch zu Wort meldeten. Mit
beißendem Hohn geißelten sie gesellschaftlich schädliches, in seinem Kern meist
borniertes oder raffiniertes kleinbürgerliches Verhalten.
Nikolai Erdman verwickelt seinen Helden
Semjon Podsekalnikow in eine makabre Intrige von nur scheinbar rechtschaffenen
Leuten. Besonders skrupellos ist der aus seiner Bahn geworfene Intellektuelle
Grand-Skubik. Er schwätzt Semjon politisch reaktionäre Motive für einen
Selbstmord auf. Auch ein Schießbudenbesitzer beteiligt sich an dem Komplott,
sodann ein selbständiger Fleischer, ein Priester, ein volkstümelnder junger Dichter,
zwei dubiose Damen und ein ziemlich ahnungsloser Komsomolze. Obwohl
untereinander durchaus uneins, sind sich diese Personen jedoch darin einig,
Semjon für ihre zweifelhaften Zwecke zu mißbrauchen.
Und Podsekalnikow willfährt ihnen. Er fühlt
sich immer wohler in der unerwarteten Rolle, auf einmal beachtet und, wie ihm scheint,
geachtet zu werden. Aber: Anstatt sich — wie abgemacht — umzubringen, besäuft
er sich bis zur Besinnungslosigkeit.
Als die zu seiner Bestattung auf dem Friedhof
versammelte „Mafia" schon Erde in die Grube wirft, klettert Semjon hungrig
und lebensdurstiger denn je aus dem Sarg und barmt bei den empörten und
enttäuschten Drahtziehern des „Menetekels" um Verständnis für seine totale
Harmlosigkeit.
Ob diese - durchweg pointiert geschriebene —
Komödie mit tragisch-bitterem Nachgeschmack noch heute ästhetische Wirkkraft
hat, probiert nun das Berliner Ensemble. Es bietet eine eigene Spielfassung,
womit schon angezeigt ist, daß dem überkommenen Text mit Kürzungen und Ergänzungen
etwas aufgeholfen werden mußte. Manfred Wekwerth läßt Semjon am Ende nicht
barmen, sondern sich aufbäumen. Die Figur entpuppt sich als eine Art ewig
lebendes „Prinzip kleinbürgerlichen Trachtens".
Wie nahe ist dieser Podsekalnikow doch seinen
deutschen literarischen Anverwandten, dem Kragler aus „Trommeln in der
Nacht" von 1922, dem Galy Gay aus „Mann ist Mann" von 1926 und dem
„Fatzer" aus den Jahren 1927/29, Brechts am Berliner Ensemble ebenfalls zu
besichtigenden Figuren. Mir scheint es durchaus angebracht, im Theater einmal
mehr auf die historische Fatalität bestimmten kleinbürgerlichen Verhaltens
aufmerksam zu machen.
Die Gefahr der Manipulierung der Kraglers,
Gays, Fatzers oder Podsekalnikows gegen den gesellschaftlichen Fortschritt
sollte auch heute auf der Bühne nicht verharmlost werden. Andererseits tut es
gut, wenn solche Zurschaustellung souverän und mit gezieltem, dem realistischen
Format der Komödie angemessenen Witz geschieht.
Wekwerth ist hierin erfreulich gründlich.
Vielleicht werden zügige Dialoge von gestischer Ausführlichkeit gelegentlich
etwas aufgehalten. Doch ist diese Inszenierung reich an konkreter, aus dem
Spiel quellender Komik. Allein die „Valentiniade" Semjons beim vertrackten
Üben mit dem Sousaphon (Tuba) lohnt den Abend.
Martin Seifert gibt den Podsekalnikow als
kleinen Mann, armselig, tollpatschig und trotz aller geistiger Unbedarftheit
irgendwie treuherzig und rechtschaffen. Damit spielt er eine soziale Dimension
an, die einigermaßen unvermutet eben auch in dieser Figur steckt und sie von
denen Brechts unterscheidet.
Der seine Selbstmord-Eskapade immerhin aus
eigener Kraft überstehende und danach „geläuterte" Semjon wirft nämlich
eine damals neue Frage auf, zwar noch nicht ernsthaft, eigentlich nicht
begriffen und hinter dem Provokativen sogar überhörbar. Er fragt nach den
realen Möglichkeiten, die seinesgleichen, der kleine, unbedeutende Mann aus der
Nebenstraße, hat, seine Individualität und seine Fähigkeiten produktiv in den
großen gesellschaftlichen Prozeß einzubringen. Das ist ein durchaus erkanntes,
mit jeder Generation sich immer wieder neu stellendes Problem. Die Bühnenkunst
kann keine fertigen Antworten geben, aber sie kann anregen, darüber
nachzudenken. Und insofern verurteilen und vereinseitigen weder Regie noch
Darsteller diesen Bürger Podsekalnikow, sondern sie zeigen ihn uns in seiner
ganzen Widersprüchlichkeit.
Gespielt wird in einem sich nach hinten verengenden,
zwar nüchternen, aber diskret dem Spiel dienenden Guckkasten (Bühnenbild und
Kostüm: Klaus Noack). Einfach extraordinär ist Carmen-Maja Antoni als verbiesterte
Schwiegermutter. Jaecki Schwarz umgibt den Grand-Skubik mit einer wahren
Aureole der Heuchelei. Jürgen Watzkes Schießbudenbesitzer hat eine schöne
kräftige Unmittelbarkeit. Renate Richters Maria ist von verschrobener
Hausfraulichkeit. In weiteren Rollen agierten unter anderen Franziska Troegner,
Ruth Glöss, Ralf Kober, Franz Viehmann und Frank Matthus.
Das Premierenpublikum spendete stürmisch
Beifall.
Neues
Deutschland, 1. April 1989