„Die See“ von Edward Bond am Maxim Gorki Theater Berlin, Regie K. D. Schmidt

 

 

 

Der alltägliche Wahnsinn

 

In aufgewühltem Wasser auf nachtschwarzer Bühne (zu­ständig für das Aquarium: Aus­statter Hansjörg Hartung) kämpft ein Mensch um sein Le­ben. Die Musik (Wolfgang Florey) assoziiert das Tosen eines Sturmes. Der verzweifelt Schwimmende wird wenig später tot sein, nur noch als Leiche vorkommen und nicht einmal auf dem Programmzet­tel des Berliner Maxim Gorki Theaters. Zum Auftakt seiner Inszenierung der Komödie „Die See" des gesellschaftskri­tischen Symbolisten Edward Bond serviert Regisseur K. D. Schmidt ein Detail, daß ungewöhnliches Geschehen verspricht.

Zwar handelt es sich dann nur um ein „normales" Un­glück - zwei junge Männer sind im Sturm durch Manövrier­fehler mit ihrem Segelboot ge­kentert, Colin, der eine von ih­nen, kommt um, Carson, der andere, kann sich retten -, doch der Fall trägt sich im Jah­re 1907 an der englischen Ost­küste zu. Und dort, in einem rückständigen, zutiefst klein­bürgerlichen Städtchen - so­zusagen in einem britischen Clochemerle, bewohnt von al­lerhand Käuzen - bekommt er einen kriminellen, ja einen po­litischen Touch.

Colin, so behauptet der über­lebende Carson, wäre zu retten gewesen, hätte die Küstenwa­che nicht ihre Hilfe verweigert. Chef dieser Wache ist der Tuchhändler Hatch, den der tagtägliche Kampf ums ge­schäftliche Überleben geistig knülle gemacht hat. Er hat einige willfährige Spießgesellen um sich geschart, denn er lebt in dem Wahn, von Eindringlingen aus dem Weltraum be­droht zu sein. Den Schiffbrü­chigen hielt er für einen ersten Vorboten, weshalb er seine Mannen zurückhielt. Nicht ganz unschuldig an Hatchs Wahnsinn ist Mrs. Louise Rafi, die reichste Bürgerin am Ort, die nicht nur den Pfarrer (Thomas Schmidt) dominiert, son­dern überhaupt das Sagen hat. Unerschrocken kämpft sie für die Aufklärung des Falles, das heißt gegen Hatch. Der dreht durch, geht sogar mit der Sche­re auf sie los.

Zwei prächtige Rollen. Die Mrs. Rafl scheint Monika Lennartz auf den Leib geschrieben zu sein. Die Schauspielerin verbindet nie versagende Schlagfertigkeit und ungebro­chene Lebensenergie dieser Dame ergötzend mit deren bla­sierter Dünkelhaftigkeit, die einzelnen Charakterzüge ab­rupt brechend und souverän gegeneinander stellend. Louise ist ein wahrer Drachen im Um­gang mit ihren Untergebenen, ob's nun ihre Gesellschafterin

Jessica (Gaby Pochert) ist oder ihr Gärtner. Und sie tyranni­siert Hatch. Den geistig zerrütteten, gefährlich ausrasten­den Kleinhändler gibt Hans Diehl in überzeugender Studie. Völlig kopflos fällt dieser arme Irre am Strand über die Leiche des Colin her, wähnend, er morde den schlafenden Carson.

Insgesamt hat Regisseur K. D. Schmidt die skurrilen Vorgänge prazis in Gang ge­setzt. Höhepunkte sind die ar­rogante Einkaufs-Tour der Mrs. Rafi, die possierliche Theaterprobe in ihrem Salon sowie die kläglich aus dem Ru­der geratende Meeres-Bestattung des verstorbenen Colin. Der offenbar einzige einiger­maßen vernünftige Mensch am Ort scheint der Obdachlose Evens zu sein, der in einem Strandkorb haust. Klaus Man­chen gibt ihn mit wacher Hei­terkeit und rostig-rauher Stim­me. Evens setzt dem allgemei­nen Schwachsinn des Daseins seine trotzig-schrullige Le­bensphilosophie entgegen.

Am Ende überraschend ein neuer Ausbruch von Gewalt. Ausgerechnet der überlebende Carson (Till Weinheimer) mor­det, und das aus heiterem Him­mel, völlig unmotiviert. Thea­ter über den alltäglichen Wahnsinn...

 

 

Neues Deutschland, 8. Mai 1996