„Die echten Sedemunds“ von Ernst Barlach am Deutschen Theater Berlin, Regie Rolf Winkelgrund

 

 

 

Welt der Kleinbürger als Panoptikum

 

„Die kosmische Mühle mahlt eben anders, als alle Geschäftsleute glauben", spottete der Dramatiker und Skulpturenbildner Ernst Barlach (1870—1938) nach dem Ende des ersten Weltkrieges. In eben dem Jahr, 1919, beendete er sein Drama „Die echten Sedemunds", das er 1917 zu schreiben begonnen hatte.

Das Deutsche Theater führt das Werk jetzt in einer behutsam werktreuen Inszenierung von Rolf Winkelgrund vor, der am gleichen Haus 1985 schon Barlachs „Blauen Boll" erfolgreich in Szene setzte. Behutsam insofern, als der offensichtliche Respekt vor der Bildgewalt des Dichters den Regisseur davor bewahrte, sich modisch aktualisierender Ausdeutung zu bedienen, was seine Handschrift ohnehin nicht gewesen wäre. Andererseits verleitete ihn seine Hochachtung dazu, die komisch­satirische Bilanz des Barlach ein wenig zu idyllisch, zu beschaulich zu ziehen.

Zwar scheint es, als hätten den Dichter die Ereignisse und Ergebnisse des Krieges kaum berührt, aber im Kosmos der Symbole seiner „Sedemunds", in der von ihm gezeichneten, anscheinend von weltlichem Getriebe meilenweit entfernten mecklenburgischen Provinz, spiegeln und brechen sich in wundersamer Verschärfung deutsche Zustände seiner Zeit.

Die Geschäftsleute einer Kleinstadt, die Sedemunds und Gierhahns, sind noch einmal ungerupft davongekommen. Sie herrschen im Ort nach wie vor unumschränkt. Und doch — die „kosmische Mühle" ist im Gange, unaufhaltsam und mit grotesken Umdrehungen. Urplötzlich und unvermutet wird eine morsche, mürbe Welt schuldbeladener Väter erkennbar.

Die „Wegsucher" aber, die sich bemerkbar und damit Unruhe machen, sind alles andere als politische Rebellen. Sie gehören zur herrschenden Schicht. Da ist der Herr Grude, ein cleverer Bürger, der sich dem kaiserlichen Kriegsdienst zu entziehen wußte, indem er sich in eine Irrenanstalt einweisen ließ. Jetzt genehmigt er sich einen Ausgang und einen Jux. Er bringt das Gerücht unter die Leute, aus einer Schaubude sei ein Löwe ausgebrochen — vom Dichter zugleich als Symbol gemeint: der Löwe als ein sprechendes Bild für das unhörbar brüllende Gewissen.

Die Kleinbürger, so scheint es, haben Gewissen. Hysterie ergreift sie. In der Turbulenz der Nacht, in der sich Himmel und Hölle zu berühren scheinen — zumindest in der Vorstellungswelt dieser mecklenburgischen Kleinstädter — vollzieht sich als sarkastische Komödie ein „Jüngstes Gericht". Aus im Grunde nichtigem Anlaß — der Löwe ist längst verstorben und nur noch als Fell existent — bricht auf, was deutsche wohlstandsbürgerliche Sittsamkeit und Geltungssucht ansonsten geschickt zu verbergen vermochten. Heuchelei und Meineid kommen an den Tag und, dies das Ärgste, daß der alte Sedemund seine Frau in den Selbstmord getrieben hat.

Während aber der Bestattungs-Unternehmer Gierhahn wankt und schwankt, so daß ihm auf dem nächtlichen Friedhof sogar eine Tote erscheint, widersteht der alte Sedemund, eben ein echter Bourgeois, als ein wahrer Uberlebenskünstler den Anfechtungen mit herausforderndem Trotz.

Der aufmüpfige Sohn Gerhard, der andere „Wegsucher", der sich einem diffusen Natürlichkeitsverein verschrieben hat und zunächst in heroisch-komischer Beharrlichkeit des Vaters Verfehlung aufdeckt, beugt sich letztlich dem Vater und dessen Bruder, dem standesbeflissenen Waldemar. Er ist eben auch ein „echter Sedemund". Zwar weiß er, „es stinkt zum Himmel von Sedemunds wie ein Haufen Unrat", doch zugleich begreift er, Vater und Onkel sind „eben bestrenommierte Bürger alle beide", und „ins Bestehende wird so leicht keine Bresche gebrochen".

Aus dieser sozialkritischen Barlachschen Sicht hätte die Inszenierung durchaus eine deutlicher werdende Ironie vertragen, zumindest was die Handlungen des jungen Sedemund betrifft. Gerade in dieser Figur liegen hohles Pathos und erbärmliche Komik eng beieinander. Frank Lienert indessen hat einen treuherzig-geradlinigen jungen Mann zu spielen und dessen Glauben an den weltfremden Adamismus nicht als offenkundige Spinnerei, sondern als redlich-ernsthaftes Trachten.

Winkelgrund gibt den Expressionismus Barlachs geradezu unauffällig. In der einfachen, sozial bestimmten Spielführung des Regisseurs und in den plastischen Bühnenbildern Jürgen Heidenreichs entstehen unverwechselbare Bühnengestalten. Sie haben Bodenständigkeit wie Skurrilität, und sie haben alleweil die so liebenswerte Gemächlichkeit der Leute von der Küste.

Hervorzuheben ist aus der geschlossenen Ensembleleistung zunächst Kurt Böwe. Er gibt den alten Sedemund in bewährter Art: mit in sich ruhender Kraft, behend im Geist, verschmitzt im Ausdruck, differenziert in der Geste. Ein Kabinettstück liefert Dieter Mann als Onkel Waldemar: ein rührend um die Familienreputation besorgter alter Herr. Friedo Solter ist der bärbeißig-selbstgerechte Gierhahn. Reimar Joh. Baur entwirft famos den Schneider Mankmoos: eine erbarmungswürdige Kreatur, heruntergekommen, wehleidig, nicht ohne hintergründigen Humor. In weiteren Rollen Dagmar Manzel (Sabine), Rolf Ludwig (Orgelspieler), Volkmar Kleinert (Ehrbahn), Christian Stövesand (Wachtmeister Lemmchen), Michael Schweighöfer (Bildhauer Bromann) und Horst Hiemer (Kutscher Karl).

Schließlich Jörg Gudzuhn als Grude. Dessen Dämonie ist die eines wendigen Spielmachers, der einen Blick für die Zukunft hat und seine Karten entsprechend zinkt. In ihm werden die Sedemunds denn doch einen ernsten Konkurrenten haben, einen, der schon jetzt frohlockend über ihre Gräber hinwegtanzt, in den flotten Rhythmen der zwanziger Jahre und mit seiner gewitzten Ehefrau (Simone von Zglinicki).

Ein theatralisches Panoptikum rundum von höchst vergnüglicher Art, das zeigt, wie sehr und nachhaltig großbürgerliche Macht auf kleinbürgerlichem Beharrungsvermögen fußt und ruht. Das Premierenpublikum spendete viel Beifall.

 

 

Neues Deutschland, 12. Mai 1988