„Drei Schwestern“ von Anton Tschechow an der Volksbühne Berlin, Regie Christoph Marthaler

 

 

 

Verkorkste Menschheit

 

Tschechow absitzen. Welch gesitteter Mitteleuropäer hätte sich's nicht wenigstens schon einmal zugefügt. Rezensenten widerfährt es öfter. Immer freilich ist es ein Erlebnis, wenn der Regisseur wenigstens eine Antenne hatte für das, was man gemeinhin russische Seele nennt. Der weitgereiste Christoph Marthaler, dessen Bühnenbildnerin Anna Viebrock mal eben über die Grenze nach Polen fährt, um in Dabroszyn triste Wirklichkeit zu fotografieren, hat seine liebe Not mit dem Russen. Doch der Schweizer Erzschelm und designierte Intendant des Zürcher Schauspielhauses macht daraus eine Tugend. Er pfeift auf die russische Seele. An der Berliner Volksbühne kommt er bei seiner Parodie der Tschechowschen »Drei Schwestern« ohne sie aus.

Dieser oder jener mag finden, daß das gar kein Verlust ist. Ich will hier nicht über Verarmung von Schauspielkunst lamentieren. Heutzutage werden ganz andere Aktivposten abgewickelt. Die Sache ist schlicht die: Marthaler kneift vor dem Naturalisten Tschechow, befürchtet vermutlich, im überkommenen Klischee zu enden - und wirft ein neues Klischee, nämlich seine eigene, schon zur Manier verkommene ästhetische Masche über das Drama. Der betuliche Zeremonienmeister, der eigene Kreationen wie diverse Stücke mit Musik, Gesang und Langsamkeit ergötzend aufzubereiten wußte, hat offenbar das Gefühl dafür verloren, wann der Spaß in leerlaufende Langstieligkeit umschlägt.

Aber zelebrierte Langatmigkeit, diese äußerliche Tour, ist nicht einmal das Problem. Viel gravierender scheint mir, daß der Regisseur Tschechows Menschen entwurzelt. Sie müssen nicht nur ohne Seele, sie müssen auch ohne ihr Milieu auskommen. Statt ins Haus der Prozorovs in tiefer russischer Provinz sind sie von Anna Viebrock in ein anonymes weitläufiges Treppenhaus verbannt, wo sie wacker ihre Texte aufsagen. Zeit- und ortlose kauzige Spießer werden demonstrativ als Sprecher der verkorksten Menschheit vorgeführt, von Pianist Clemens Sienknecht außerordentlich liebevoll garniert.

Eingangs verkündet der senile Ferapont (Ulrich Voß), Versinins Text zitierend, wie schnell ihr Schicksal in Vergessenheit geraten wird. Dann marschieren die drei Schwestern, Olga (Heide Kipp), Masa (Susanne Düllmann) und Irina (Olivia Grigolli), in forschem Gleichschritt wie vorzuführende Zirkuspferde herbei. Schnell ist helle, daß man es mit Abziehbildern zu tun hat. Die natürlich auch ihren Reiz haben. Weil sie so schön simpel sind. Meist kommen sie die zahlreichen Treppen herab, hernach stehen oder sitzen sie herum. Wem sie etwas zu sagen haben, zu dem laufen sie aufwendig hin. Wenn sie ein Statement abgeben, nehmen sie besondere Position ein. Dazu werden sie extra beleuchtet. Wenn sie extrem fühlen, posieren sie nachhaltig. Kein Naturalismus im klassischen Sinne also, dafür allerhand neckisches Requisitenspiel. Andrej (Ueli Jäggi), dieser verhinderte Universitätsprofessor in Pantoffeln, wird als ein Depp vorgeführt, der alles, was er reparieren will, erst so richtig kaputt macht.

Dem Marthaler ist wichtig mitzuteilen, daß in dieser Ansammlung provinzieller Kleinbürger verborgene Feuer lodern. Zum Beispiel die unbändige Lust auf Arbeit. Wie Tuzenbach (Martin Horn) davon schwärmt, entlarvt alle Barone als eitle Heuchler. Noch solch Feuer ist das der Liebe, zumindest der unerfüllten Sehnsucht danach. Das Heimweh nach Moskau ist reine Rhetorik, doch der Drang nach Liebe ist elementar. Höhepunkt des Abends: Versinin (Peter Fitz) küßt Masa inbrünstig, Ehemann Fedor (Joachim Tomaschewsky) schaut zu. Danach legt sich Masa erst mal lang vor seliger Verzückung. Seele denn doch?

Die reichlich vierstündige Session endet mit der mehrfach prononciert vorgetragenen Erkenntnis des Arztes Cebutykin (Klaus Mertens), daß eigentlich alles egal sei, sowie mit dem vergeblichen Versuch Feraponts, noch einmal zu zitieren. Ihm fällt das Buch aus der Hand, und er ist zu steif dazu, es wieder aufzuheben. Worüber er sich ausnehmend amüsiert.

Bleibt noch die zentrale theatrale Metapher Marthalers zu erwähnen: Seine Figuren kommen hoch droben herein und die Treppen herab, absolvieren ihre Auftritte und treten nach drunten in den Keller ab. Wohin sie ohnehin allenthalben hingerissen schauen, wenn sie nicht gerade an die Wand starren. Wie das eben in Stumpfsinn versunkene Menschen zu überkommen pflegt.

 

 

 

Neues Deutschland, 13./14. September 1997