„Die Familie Schroffenstein“ von Heinrich von Kleist an der Schaubühne Berlin, Regie Andrea Breth

 

 

 

 

Morden als heiliger Akt

 

Zum Ausklang der Spielzeit leistete sich die Berliner Schaubühne einen exzellenten Flop. Andrea Breth, die Regie-Chefin des Hauses, servierte das Trauerspiel »Die Familie Schroffenstein« - Heinrich von Kleists Erstling, diesen mit Elementen der Schicksals-, Schauer- und Ritterdramen à la Werner, Müllner und Raupach angereicherten pubertären Shakespeare-Verschnitt - ohne kritische Distanz mit einem schon manisch anmutenden Willen zur Identifikation. So penetrant gefühlsselig mag vor Otto Brahm, unter Adolph L'Arronge, in Berlin gespielt worden sein. Will die Schaubühne dahin zurück?

Als sich 1991 Christoph Schroth am Berliner Ensemble des Stückes erinnerte, hatte Kleists fatale Rache-Orgie der Schroffensteins, der Herrscherhäuser Rossitz und Warwand, ausgelöst durch einen ominösen Erbschaftsvertrag, in deutscher Geschichte unerwartet groteske Fortsetzung gefunden. Die Ostdeutschen, die eben die Einheit erzwungen hatten, waren zum Dank von ihren erbenden westdeutschen Brüdern und Schwestern gnadenlos über den Tisch gezogen worden. Vergleichende Assoziationen boten sich mühelos. Aber Schroth aktualisierte nicht primitiv. Und das Wesentlichste: Er wich der bizarren Komik nicht aus, er etablierte die abstruse Familiengeschichte als absurde Tragikomödie.

Immerhin, so die Überlieferung, hatte einst Kleists Lesung des Stückes bei den Freunden »allseitiges Gelächter« ausgelöst, in das der Dichter vergnügt eingestimmt haben soll. Alles spricht dafür, daß das begnadete Talent zwar einerseits das tragische Verhängnis der Entfremdung zweier Familien eines Sprosses, deren Verstricktsein in unbewiesene, aber geglaubte Mordverdächtigungen im Auge hatte, aber andererseits und gleichzeitig die unseligen Ritter- und Schauerdramen seiner Zeit zu parodieren versuchte. Diesem ästhetischen Doppelspiel muß man sich schon stellen, wenn man heute zu dem Stück greift.

Andrea Breth läßt sich sächselnde Diener einfallen und Ritter, die wie Außerirdische posieren und reden. Ansonsten zieht sie sich ganz und gar in eine sich selbst genügende, feierlich hehre Kunstwelt zurück. Wozu das Bühnenbild Gisbert Jäkels maßgeblich beiträgt, das an sich in erfreulicher Wandlungsfähigkeit schnelle Bildwechsel und zügiges Agieren ermöglicht. Es bietet das Innere einer Kapelle als einen großen halligen Dom und bleibt, auch wenn da Gebirge sein soll, spärlich plastisch ausgeleuchteter, fast monumentaler, kalt romantischer, eher mystischer Spielraum. Geradezu mystifiziert ist Ursulas, der Totengräberwitwe an sich harmlose Bauernküche, die mit großem Kessel und teuflisch riesiger Gabel gleichsam zur offiziellen Institution der Hexen umfunktioniert scheint. An abstrakt weihevollen Orten also begibt sich konventionell betuliches, in sich ruhendes, erschreckend steriles Theater.

Anfangs, wenn Thomas Thieme als Rupert, Graf von Schroffenstein, zwar seelenbebend, aber noch mit realem Ton, dem Sylvester und seinem Hause Warwand gnadenlose Rache schwört, ist Wirklichkeit nicht ganz und gar ausgespart. Doch von Ruperts schroffer Absage an die Natur scheinen Regisseurin wie Darsteller schlimm angesteckt. Kein natürlicher Klang mehr, nur noch einschläfernder Predigerton - allen voran Wolfgang Michael als Sylvester - in einer lastendes Schicksal langstielig und todernst austragenden Inszenierung.

Jedes vom Dichter angemerkte In-Ohnmacht-Fallen auch auszuführen, scheint mir falsch verstandene Werktreue. Das redliche Vom-Blatt-Spielen offenbart zwar ungewollt des jungen Kleists Treuherzigkeit - siehe die kacknaive Beziehung Ottokars (Cornelius Obonya) und Agnes' (Caroline Peters) -, aber Literaturpflege allein ist kein Motiv, die »elende Scharteke« (Kleist) zu spielen. Im anhaltend schwülstig tragischen Diskurs fällt auf, daß die Mörder jeweils demonstrativ verzögert vorgehen, als zelebrierten sie einen heiligen Akt. Finstere Zeiten, in denen Morden so sakral genommen wird. Denn doch ein deutender Akzent? Die Regisseurin, vermute ich, versucht zu fassen, was der Dichter so notierte: »Das Schicksal ist ein Taschenspieler - Sturm der Leidenschaft, Raub des Irrtums, Himmel hat uns zum Narren«.

In der Tat: Am Ende, wenn die mörderischen Eltern ihre getöteten Kinder nicht erkennen, erst ein Blinder sie aufklären muß, sind sie nichts als erbärmliche Narren, und ihre Beteuerung der Versöhnung unglaubwürdig. Oder soll man ihnen doch vertrauen? Wieder bleibt's diffus, wo deutlich ironischer Abstand nötig wäre.

 

 

 

Neues Deutschland, 17. Juni 1997