„Familie Schroffenstein“ von Heinrich von Kleist im Berliner Ensemble, Regie Christoph Schroth

 

 

 

Romantisch veredeltes Schauerdrama

 

Totschlag aus Versehen! Auf dieses fatale Diktum hin, der Äußerung der Totengräber-Witwe Ursula am Ende des Spektakels, inszenierte Christoph Schroth Heinrich von Kleists Erstling „Die Familie Schroffenstein" am Berliner Ensemble. Und dies ästhetisch höchst respektabel. Obwohl der Regisseur unter der angekündigten künftigen „Regie-Fünferbande" (Peter Zadek, Matthias Langhoff, Peter Palitzsch, Fritz Marquardt, Heiner Müller) nicht zu finden ist, hat das Ensemble mit dieser Arbeit erst einmal wieder Tritt gefaßt.

Ein romantisch veredeltes Ritter- und Schauerdrama, wo gestochen, geflennt und geschrieen wird - Schroth entdeckt es als absurde Tragikomödie. Komödisch raffiniert erzählt er die abstruse Familiengeschichte derer von Schroffenstein. Die Herrscherhäuser Rossitz und Warwand reiben sich wegen unbewiesener, aber geglaubter Mordverdächtigungen gegenseitig auf, verstricken ihre Untertanen ins Unheil.

Der Regisseur zeichnet das Lächerliche wie Makabre dieses Tuns. Mit Hilfe des Bühnenbildes und der Kostüme (Lothar Scharsich) holt er den höllischen Mechanismus der Beschuldigungen und des Verderbens ins Gegenwärtige. Die feudalen Potentaten, die Grafen, Ritter und Vasallen agieren wie gut situierte Bürger, die sich wegen eines Erbvertrages besitzgierig an den Kragen gehen.

Zugleich wird Kleists Verzweiflung angesichts verlorener Ideale assoziiert, jene Sätze, die sich am Rande seines Schroffenstein-Manuskriptes finden: „Das Schicksal ist ein Taschenspieler - Sturm der Leidenschaft, Raub des Irrtums, Himmel hat uns zum Narren." Unerklärliche Mystik waltet in den Entscheidungen der Grafen Rupert und Sylvester. Eskalation des Verbrechens bis zur Tötung der eigenen Kinder. Den schließlichen Totenreigen auf der sich drehenden Bühne beherrscht die Hexe Ursula (Barbara Dittus).

Vital entgegengesetzt hat der Regisseur die tragisch endende Liebe zwischen Agnes, der Tochter des Hauses Warwand, und Ottokar, dem Sohn des Hauses Rossitz. Die Debütantin Gabriela Maria Schmeide gibt die Agnes ausdruckskräftig als ein durch elterliche Streitereien verunsichertes, in Hektik getriebenes blutjunges Mädchen, das heimlich in die Natur entflieht. Wo sie Verehrer findet. Den närrisch verliebten Johann, Ruperts unehelichen Sohn, dem Sewan La-chinian bizarre Gestalt verleiht. Aberwitzig-grotesk Johanns Versuch, Agnes einen Kuß abzuringen. Als er sie auffordert, ihn zu töten, kommt der ebenfalls verliebte Jeronimus dazu. Noch eine Steigerung im aberwitzig Grotesken. Veit Schubert gibt exzellent komisch einen unsicher lavierenden Pendler zwischen den Fronten. Ottokar, der einzige, den Agnes liebt, ist bei Götz Schulte die Redlichkeit in Person, ein gewissermaßen stets etwas über den Realitäten schwebender Intellektueller.

Erstaunlich fündig entdeckt Schroth realistische Vorgänge und entwirft genau das Widersprüchliche der im Schicksal verfangenen Figuren. Gertrude, hysterisch, aber um Haltung bemüht (Angelika Waller). Graf Sylvester, vom Leben enttäuscht, in Melancholie verfallen (Martin Seifert). Graf Rupert, aggressiv, störrisch (Arno Wyzniewski). Eustache, eingeschüchtert, ängstlich (Barbara Bachmann).

Die zunächst spürbare Zurückhaltung des Publikums löste sich. Beifall und Bravorufe.

 

 

Neues Deutschland, 10. September 1991