„Das trunkene Schiff“ von Paul Zech an der Volksbühne Berlin, Regie Frank Castorf

 

 

 

Taumelnd auf einem Meer der Symbolik

 

Im Theater im dritten Stock eröffnete die Berliner Volksbühne ihre Spielzeit 1988/89. Unbekümmert forsch experimentiert dort Gastregisseur Frank Castorf mit Paul Zechs szenischer Ballade „Das trunkene Schiff".

Als Erwin Piscator das Stück 1926 in der Volksbühne zur Uraufführung brachte, betrat er theatralisches Neuland. Doch der Kritiker Alfred Kerr belegte die Inszenierung mit den Etiketten „Trickhuberei" und „weglose Neusucht". Piscator war bestrebt gewesen, das Individualpsychologische des sich als Dramatiker versuchenden expressionistischen Lyrikers Paul Zech (1881-1946) politisch-historisch zu grundieren. George Grosz lieferte ihm drastisch kommentierende Bühnenbilder.

In einem Essay hatte Zech das französische Dichtergenie Arthur Rimbaud (1854-1891), den Wegbereiter des lyrischen Symbolismus, regelrecht als einen Schamanen glorifiziert. In seinem Stück feierte er ihn in expressionistischer Manie als den „Baal" der poetischen Moderne. Zech vermittelte, wenn auch verklärt, ein Bild von dem „genialen Phänomen Arthur Rimbaud" (Piscator), der der Literatur entsagte und als waffenhandelnder Privatkolonisator nach Afrika ging. In seinen Szenen pulsieren die „schnell hinfließenden Stationen eines ungeheuren Lebens", die Abkehr von der bürgerlichen Konvention des alten Europa und das vitale, tatenreiche Hinwenden zu einem künftig freien Afrika. (Mit von Rimbaud bezogenen Waffen schlugen die Äthiopier unter Negus Menelik II. 1896 die italienischen Okkupanten). In einer Zeit, die vom historischen Kampf der Pariser Kommune erhellt war, praktizierte ein einzelner faustischen Zugriff auf die Welt. Und eben solch Geist menschheitlichen Aufbruchs pulsierte damals in Piscators Inszenierung.

Nichts davon bei Frank Castorf. Er geht noch hinter Zech zurück. Scheinbar neugierig auf den Mief literarischer Hinterstübchen schrieb er zunächst einmal ein eigenes Stück. Er nutzte Motive Paul Zechs, eliminierte Rimbauds aufschwingenden Tatendrang und konzentrierte sich auf die Liaison des Jugendlichen mit dem Dichter Verlaine (1844-1896). Auffällig dabei sind die zuweilen naturalistisch ausfransenden Dialoge, wobei die Schauspieler auf einen Alltagsquasselton zurückfallen.

Heraus kam ein makabres, clownesk-parodistisches szenisches Traktat über die Aggressivitäten und Absurditäten homoerotischer Beziehungen und über die endliche Heimfindung Verlaines zu seiner frau Mathilde. Dafür verbraucht Regisseur Castorf zwei rohe Eier, eine Buddel Klaren, zwei Flaschen Sekt, Mehl aus der Tüte, einen mannsgroßen Papiersack, eine Schüssel nassen Lehm, ein Dutzend Porzellanteller — Requisiten aus der antiquierten modernistischen Trickkiste.

Und der Abend fängt so vielversprechend an! Nach überflüssigen Lacharien hinter der Kulisse (Bühnenbild: Bert Neumann als Gast) toben die aufsässigen Kinderchen Isabella (Silvia Rieger als Gast) und Arthur (Axel Wandtke) plärrend, schmollend und sich verdreschend. Eine genau geführte szenische Metapher. Auch der zwischen Boshaftigkeit und Zärtlichkeit pendelnde Umgang der Kinder mit ihrer autoritären Mutter (Susanne Düllmann) überzeugt. Das sind zwar abstrakte, aber beredte Vorgänge. Sie scheinen zudem bewußt auf Rimbaud zu zielen, haben sein urwüchsiges Temperament, seine Unmittelbarkeit und gar nichts vom expressionistischen Schwelgen des Paul Zech. Sehr deutlich wird das Symbolische noch einmal, wenn der von seiner penetrant spießbürgerlichen Ehefrau (Cornelia Schmaus) schlimm gedemütigte Verlaine (Henry Hübchen) besessen rasend mit einem Messer mehrmals auf die im Schmerz sich Krümmende einsticht — und Mathilde danach wohlauf und vorerst einmal gebändigt weiterspricht. Da sind schauspielerische Aufgaben. Da zeigt ein talentierter Regisseur seine Visitenkarte.

Aber die Textvorlage verliert sich. Die Regiephantasie zehrt aus. Die Einfälle verläppern. Der Requisitenulk macht sich selbständig. Das „trunkene Schiff" treibt schließlich und letztlich ziellos auf dem bizarren Wellenmeer theaternden Symbolspiels. Rimbaud, der begnadete Dichter, dem die Welt gleichsam in Versen zuflog, wird gar als einer vorgeführt, der den kleinsten poetischen Gedanken nur mühselig aus sich herausquält. Dabei hätte der Schauspieler Axel Wandtke sehr wohl das Format für die außergewöhnliche Sensibilität, die sprühende Phantasie und die erdenschwere, sinnenkräftige Leidenschaft dieses großen tatendurstigen Unruhigen.

Rimbauds ungestüme, Zukunft aufreißende und vorwegnehmende Jugendzeit degradiert zum Gegenstand einer sich am Symbol verbrauchenden, Progression ausklammernden Parodie. Das scheint mir selbst für das Experimentier -und Raritätenkabinett im dritten Stock der Volksbühne zu „weglose Neusucht".

 

 

Neues Deutschland, 22. September 1988