„Trunkenes Schiff“ von Paul Zech an der Berliner Volksbühne, Regie Frank Castorf

 

 

 

 

Ehekrach bei Verlaine

 

Welch exzellentes Vergnügen für den Zuschauer, Schauspieler wie Cornelia Schmaus und Henry Hübchen aus unmittelbarer Nähe beobachten zu können. Gelegenheit dazu ist jetzt im 3. Stock der Berliner Volksbühne, wo Frank Castorf eine Produktion vom September 1988 wieder aufgenommen hat: die Parodie „Das trunkene Schiff nach Motiven eines Stückes von Paul Zech (1881-1946). Mit im Spiel sind Susanne Düllmann, Silvia Rieger, Axel Wandtke und Harald Warmbrunn. Man sitzt hautnah bei den Akteuren, kriegt möglicherweise was ab von ihrer Schwitzigkeit oder vom Mehl, das sie verstreuen.

Die Inszenierung, Castorfs erste Arbeit in Berlin, war nach Frankfurt/Main, München, Wien und Moskau eingeladen und jeweils mit beachtlichem Erfolg gezeigt worden. Die Wiederaufnahme jetzt geschah, um dem Wunsch des Goethe-Instituts Sao Paulo nach einer kleinen Produktion entgegenzukommen. Wichtig für Furore auch bei einem Brasilien-Gastspiel wird sein, das Publikum so direkt in den Bann zu ziehen wie in Berlin.

Vor sieben Jahren hatte ich mich von Alfred Kerr beeinflussen lassen, der Erwin Piscators Uraufführung des Zech-Stückes 1929 mit Etiketten wie „Trickhuberei" und „weglose Neusucht" belegte. Auch Castorf hat ja so seine Tricks. Ich sah seine Inszenierung als Visitenkarte eines talentierten Regisseurs, schränkte allerdings ein, was ihn als Stückefertiger betrifft. Auch 1995, find' ich, verläppert sich der Schluß seiner dadaistisch-expressionistischen Biographie Arthur Rimbauds. Für die Jugend des Poeten wie für dessen Erfolge und Krisen im homoerotischen Zusammenleben mit Paul Verlaine, seinem Entdecker und Förderer, fand Castorf überzeugende Szenen. Leben und Waffenhandel in Afrika jedoch bleiben fragmentarisch. Statt komprimierter, drastischer Handlung nur noch schrille Zeichen. Beschmieren mit Lehm als Signal für Abdriften in Sumpf und Elend? Ein Menschenaffe torkelt herum, ein hoher Militär zerschlägt rasant alles Porzellan.

Eine Regie-Qualität: Fast jeder Vorgang wird grotesk gebrochen. Vom schönsten Höhenflug stürzen Figuren ins blödeste Mißgeschick. Und umgekehrt. Umwerfend komisch die Begrüßung Rimbauds durch das Ehepaar Verlaine. Nach anfänglichem Mißverständnis steigert sich die Begeisterung über das poetische Talent zu geradezu infernalischer Lust. Wobei die Spieler, obwohl es sozusagen immer dicker kommt, nie unangenehm dick auftragen, sondern selbst die groteskesten Haltungen und Slapsticks schlank servieren.

Allerdings, im Vergleich, durch welche Akzent-Verschiebungen auch immer, nicht „Popstar" Rimbaud, sondern Verlaine und seine Mathilde machen den Abend. Das unscheinbare Talent vom Lande löst zwar alle Querelen aus - und Axel Wandtke ist ein trefflich liebender und leidender schmächtiger junger Poet, vorzüglich gestylt von Chefmaskenbildnerin Doretta Kraatz -, doch Verlaine und Gattin liefern sich ein Ehe-Duell, das alles andere in den Schatten stellt.

Cornelia Schmaus und Henry Hübchen sind glänzend aufgelegt. Sie identifizieren sich weniger als 1988, als ihr Spiel einen weltschmerzlich-grimmigen Gestus bekam. Jetzt haben sie ihre Gestalten locker im Griff und agieren mit hinreißender Ironie. So ist da zwar auch anarchistisches Aufbegehren gegen die Enge der Gesellschaft - vermittelt über die Figuren -, zugleich aber auch Erfahrung, Wissen über die Fragwürdigkeit allen Aufbegehrens - vermittelt über die Darsteller. Heiterkeit kommt auf, die ansteckt und zurückwirkt auf die Spieler.

 

 

Neues Deutschland, 21. November 1995