„Santerre“ von Peter Brasch an den Leipziger Theatern, Uraufführung, Regie Karl Georg Kayser

 

 

 

Santerre  -  „Schaum auf der Welle“

 

 

Von Georg Büchner stammt eine geniale Metapher über die Französische Revolution: „Der einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich."

An diese Überlegungen Büchners in einem Brief an seine Braut erinnerte mich in der Neuen Szene der Leipziger Theater die Uraufführung des Schaustücks „Santerre" von Peter Brasch. Der Autor nennt es eine „Legende aus der Französischen Revolution". Darin schlägt er „Schaum auf der Welle", und den Genies weist er ein „Puppendasein" zu.

Braschs Santerre ist der Sohn einer Kneipenwirtin des Provinznestes Saint Antoine. Der ausgemachte Tölpel wird von ungefähr in die revolutionären Ereignisse gerissen. Er fühlt sich wohl, macht Karriere, wird Kommandant, hat schließlich den König zu verhaften. Aber bei dessen Hinrichtung wird ihm übel. Er hilft zwar noch, die aufständischen Bauern in der Vendée zur Räson zu bringen, doch dann kehrt er heim in seine Kneipe. Da seine Verdienste sein Versagen übersteigen, wird er nicht der Guillotine überantwortet. In nachrevolutionärer Zeit revoluzzert er unbesonnen und holt sich einen blutigen Kopf. Eine neue Generation ist herangewachsen. Jean, einem Jugendlichen, der sich arrogant über die Revolution lustig macht, vererbt er seinen Bierhahn — und stirbt.

Die Legende fragte elegisch nach dem Platz und dem Engagement des einzelnen Plebejers in der bürgerlichen Revolution, die ja eben durchaus noch nicht die seine ist. Doch welch ästhetischer Widerspruch: Je genauer die Legende Santerres tragisches Schicksal ins Auge faßt, desto verschwommener wird ihr Blick auf die Revolution, desto oberflächlicher verfährt sie mit Robespierre, Danton, Marat, Roux und Babeuf. Die „Genies" degradiert sie zur Staffage, zu herumsitzenden Puppen. Der renitente Jean kippt ihnen Bier ein und wirft sie respektlos auf den Müllhaufen der Geschichte.

Büchner glaubte noch, des Dichters höchste Aufgabe sei, „der Geschichte, wie sie sich wirklich begeben, so nahe als möglich zu kommen". Heutige Stückerfinder konfrontieren uns nicht selten mit selektiven, zu ambitionierten Kunstbildern komprimierten Ausschnitten, und man ist's schon zufrieden, sofern sie nur irgendwie anregen, über Mensch und Geschichte nachzudenken.

Solcherart ist auch das Stück des 1955 geborenen Peter Brasch. Es mahnt hier gewissermaßen an, Obacht zu geben, daß junge Generationen kein gebrochenes, sondern ein produktives Verhältnis zu den revolutionären Kämpfen ihrer Väter haben. Seine theatralisierende Fabel auf dem Hintergrund der Französischen Revolution läßt allerdings nur vermittelt solche Bezüge zu.

Der Regisseur Karl Georg Kayser setzte auf die Vorstellungskraft eines kundigen Publikums. Er macht lärmendes Jahrmarkttheater. Mobilisierender Auftakt mit schriller Bumsmusik. Einmarsch der Clowns mit Klio, der Muse der Geschichte. Pantomimische Einlagen. Mimische Deftigkeiten. Der Grobianismus derlei darstellerischer Drastik hat den elementaren Reiz des Spektakels und bedient Braschs Handschrift vorzüglich.

Einige Unbeholfenheiten des Textes sind getilgt (Dramaturgie: Wolfgang Kröplin). Nicht gestrafft ist der Schluß, der sich mehrmals anbietet und wohl nur hinausgezögert wird, um der Französischen Revolution noch den Diktator Napoleon anzulasten. Aber alles dies ist so ernst wiederum nicht zu nehmen. Das theatrale Panoptikum schockiert und amüsiert, ohne wirklich anzurühren.

Wenngleich: Santerre, von Frank Sieckel zunächst als ein rechter Tor dargestellt, undifferenziert, auch sprachlich derb, hat nach der Selbstläuterung durchaus berührende Momente. Ein Mensch blickt auf sein Leben, auf sein Tun in einer Revolution, die er letztlich nicht begreifen konnte. Das hat eine verhaltene Tragik, die die Regie behutsam anspielt. Das Spektakel ist auf einmal durchlässig für Emotionen.

Im Groteskspiel finden sich neben kabarettistisch wirkungsvollen Äußerlichkeiten wie der Orgie der Ordensverleihung szenisch überzeugende Lösungen. Etwa wenn Santerre die Bauern zu packen sucht, die sich aber wie Maulwürfe seinem Zugriff entziehen, indem sie rasch immer wieder ins Erdreich verschwinden. An dieser Stelle ist der Spielraum zu würdigen, den Axel Pfefferkorn geschickt in die Neue Szene montierte. Zwei kleine Bühnen links und rechts, verbunden durch einen Laufsteg, erlauben ein sehr variables Agieren.

Fred-Arthur Geppert profitiert davon. Er gibt einen hinreißend skurrilen de Sade. Im Zusammenspiel mit Wolf-Dieter Rammler überzeugt er ebenfalls. Beide karikieren pointiert zwei Aristokraten. Katrin Saß (Mutter Jeanne, Hure) findet sensible Töne für ihre spröden Texte. Volker Ranischs aufmüpfiger Jean sei erwähnt.

Der kurzweilige Theaterabend fand kräftigen Beifall.

 

 

Neues Deutschland, 25./26. März 1989