Nachdenken zwischen den Spielzeiten  -  Berliner Schauspiel-Saison 1992/93

 

 

 

Aufrüttelndes und aufgerütteltes Theater

 

Den makabren Tiefpunkt der Berliner Theatersaison 1992/93 setzte der Senat. Knall und Fall verkündete er die Schließung des Schiller Theaters, des Schloßpark-Theaters und der Schiller Werkstatt zum Ende der Spielzeit. Noch ringen die Künstler und ihre Zuschauer um den Erhalt dieser hauptstädtischen Bühnen. Das Berliner Verfassungsgericht hat ihnen mit seiner Entscheidung von Ende Juli erst einmal eine Atempause verschafft. Ein Erfolg scheint möglich. Die Mehrheit des Berliner Abgeordnetenhauses wird hoffentlich nicht, wie der Senat das wünscht, als kulturpolitisch borniert in die deutsche Theatergeschichte eingehen wollen.

Die bösartigen Bezichtigungen hinsichtlich der angeblich ungenügenden künstlerischen Qualität des subventionierten Schiller Theaters werden deren Urheber früher oder später einholen. Es sind ja leider nicht nur Politiker, die derlei Unfug in die Welt gesetzt haben. Auch Kollegen diverser anderer Bühnen beten die abstruse Begründung des Senats nach, bereichern sie mit Originalität. Wenn man eine genügend subjektivistische ästhetische Elle anlegt, kann man letztlich jeder Bühne Mittelmaß vorrechnen, wegen dieses Stückes, jener Inszenierung, mancher Besetzung. Es ist zu befürchten, daß vorerst nicht Unvoreingenommenheit künftiges Kunsturteil grundiert, sondern politisches Kalkül. Und es wird schwer werden, Theaterabende als das zu nehmen, was sie eigentlich sind und sein sollten: Vergnügung.

Wenn ich mich frage, welche Premieren die Spielzeit prägten, komme ich nicht so sehr auf einzelne Inszenierungen, als vielmehr auf drei Regisseure: Thomas Langhoff -wegen seiner geistig herausfordernden, emotional bewegenden Inszenierungen; Frank Castorf - wegen seiner unverhohlen politischen szenischen Kreationen; Leander Haußmann - wegen seiner Humanität beschwörenden Interpretationen deutscher Klassiker.

Was mich bei Langhoff am Deutschen Theater immer wieder überzeugt, ist sein subtiler Umgang mit Mensch und Schicksal. Stets ist er sensibler Sachwalter der Figuren, des Autors, der Akteure und der Zuschauer. Ergötzen stellt sich bei ihm her über fulminante Schauspielkunst, und zwar die eines an Realisten wie Wolfgang Heinz, Benno Besson, Friedo Solter, Alexander Lang, Rolf Winkelgrund und eben vor allem Thomas Langhoff gewachsenen Ensembles.

Ich nenne zuvörderst die Diebskomödie „Der Biberpelz" von Gerhart Hauptmann mit Jutta Wachowiak in der Hauptrolle. Was diesem Abend mit gängigem Stück und betagtem Witz aktuelle Spannung gab, war die Selbstverständlichkeit, mit der Waschfrau Wolff deutsche Beamte ausmanövriert. Wie überleben? Hier war - im Spiel - eine Antwort. Das ist Langhoffs Stärke. Er interpretiert nicht in Texte hinein, er offenlegt so akzentuiert wie diskret, was an Lebensbeobachtung und -weisheit vorgegeben ist. Hugo von Hofmannsthals Trauerspiel „Der Turm" entdeckte er geradezu neu. Mit Daniel Morgenroth als Sigismund, Dieter Mann als Julian und Jörg Gudzuhn als Basilius erzählte er prononciert, was der Dichter als Idee in seinem Werk verborgen hat: Beim Zusammenbruch eines Gesellschaftssystems haben freiheitliche, aber ahnungslose Idealisten wie Königssohn Sigismund und das mißbrauchte Volk nicht die geringste Chance. Hofmannsthal geradezu als Gegenwartsautor. Auch A. N. Ostrowski. In dessen Komödie „Der Wald", Langhoffs dritter Inszenierung, war das „Geschäft" der Witwe Raissa (Gudrun Ritter) und des Holzhändlers Wosmibratow (Dietrich Körner), das scheinheilige Taktieren und Erpressen, das hinterhältige Mogeln und Raffen, vorgeführt wie ein Anschauungs-, ja ein Lehrbeispiel zu höchst aktuellem Thema.

Das heißt, Langhoff serviert Vergnügung („des Theaters nobelste Funktion"), einer Maxime Brechts folgend, stets als zwar mit Moral und Lehre zusammenhängend, doch gut gegeneinander ausgewogen. Wer seine Botschaft nicht mag, kann ohne Verlust an Unterhaltung darüber hinwegsehen. Sehr anders Castorf. Dessen agitatorischer Didaktik kann man sich schwerlich entziehen. Seine gewollten Sentenzen knallt er als triviale theatrale Bilder gezielt ins Parkett der Berliner Volksbühne.

Zu sprechen ist vom Super-Clowns-Spektakel „Clockwork Orange",nach Anthony Burgess, einer Uraufführung mit Silvia Rieger, Wilfried Ortmann, Gerd Preusche, Harald Warmbrunn. Arrangiert und kombiniert nicht als eine Antwort, sondern als Illusionen zerstörender Kommentar zur Sehnsucht der Jugend nach einem Leitbild. Castorfs szenische Metaphern sind drastisch, lakonisch, ja sardonisch, scheinbar überhaupt absurd, jedenfalls schier unerschöpflich im grotesken Verknoten von Wirklichkeitsmaterial. Selbst Euripides' „Alkestis" trimmte er in seine Spielweise. Und macht Wirkung. Das antike Drama als frühes Beispiel für die gnadenlose Auslieferung der Frau an den Mann. Der Regisseur sagte seine Meinung zur Neubelebung des § 218 in der einstigen DDR. Freiheit für die Frau? Eine Schimäre!

Leander Haußmann war für den Berliner Spielplan der einzige Obmann der deutschen Klassik. Seine Aufarbeitungen am Schiller Theater waren betont unkonventionell, aber sie suchten die große Gebärde und die leidenschaftliche Sprache. Und sie fanden auf diesem Wege zum humanistischen Herzen der Klassiker, nicht vorbehaltlos, durchaus beeinflußt von bitteren Erfahrungen aus der Gegenwart. Goethes Trauerspiel „Clavigo" mit Oliver Stern in der Titelrolle und Steffi Kühnert als Marie gab Haußmann mit freundlicher Ironie. Sein Clavigo: ein unentschlossener, dickleibiger Melancholiker, ein ins soziale Aus triftender Schreiber. Dann Schillers „Don Carlos" mit Dirk Nocker als Kronprinz. Erlebnis der schönen, feurigen, wenngleich illusionären Hoffnung der Jugend, ihr Jahrhundert in die Schranken fordern zu können. Nicht kühl distanzierter Umgang des Regisseurs mit den Klassikern, sondern geradezu partnerschaftliche Begegnung. Aus den Tiefen ihres unerschütterlichen Glaubens an Menschlichkeit holt er sich seine Impulse.

Solche Antriebe und Anregungen bietet zeitgenössische Dramatik kaum. Gewiß, das Bürgertum hat seine Ideale längst pervertiert. Und das Proletariat hat die seinen vorerst aus den Augen verloren. Muß daraus in der Kunst hilflose Absage an den Menschen erwachsen? Rolf Hochhuth hatte mit „Wessis in Weimar" ein Gegenangebot gemacht, hatte mit trotzigem Ruf nach Gerechtigkeit für die enteigneten und gedemütigten Ossis ein Zeichen setzen wollen. Aber Einar Schleef am Berliner Ensemble nutzte die Uraufführung des gewiß sperrigen, publizistischen Textes autoritär für eine ästhetisch zweifelhafte allgemeine Show über deutsche Misere, statt konkret aufs aktuell brisante Thema einzugehen.

Eine Uraufführung seltener Art bot die Volksbühne: „Stadt der Gerechtigkeit" von Lew Lunz, ein Politspektakel aus dem Jahre 1923 über die Unmöglichkeit, auf dieser Welt eine Kommune absoluter Gleichheit einzurichten. Andreas Kriegenburg hatte die sarkastische Angelegenheit mit Witz und szenischer Phantasie auf die Bühne geholt. Reibung mit sozialer Utopie, wenigstens am Theater.

Eine weitere Uraufführung an der Volksbühne: Der Schweizer Christoph Marthaler bot als Autor und Regisseur einen deutschen „patriotischen Abend", betitelt „Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab!" Glücklicherweise war der Abend weder so lang noch so läppisch wie der Titel, vielmehr eine wahrhaft amüsante Verspottung des manipulierbaren vaterländischen Bundesbürgers.

Noch eine Uraufführung der Volksbühne: Christoph Schlingensiefs Polit-Groteske „100 Jahre CDU - Spiel ohne Grenzen". In der Regie des Autors. Mit der Streitbarkeit eines Erwin Piscator holte er die unsäglichen deutschen Zustände auf die Bühne: Das neue alte große Reich, fest in der Hand der Bourgeoisie, als ein kochender sozialer Hexenkessel, aus dem sich faschistoider Ungeist wie ein giftiger Nebel erhebt. Die theatralen Mittel waren grob, gewiß, auch keinerlei literarische Ambition, aber besessener Wille, mit ungeschminkter Wahrheit aufzuklären, aufzustören, aufzurütteln.

Die Volksbühne war zweifellos das innovationsreichste und virtuoseste Theater der Saison, die Bühne, die jüngste deutsche Geschichte unerbittlich abarbeitete. In dem Zusammenhang ist noch eine Uraufführung zu nennen, Jochen Bergs Politfarce „Fremde in der Nacht" (Regie Frank Castorf). Das Deutsche Theater hielt gerade noch mit. Dort kam als deutsche Erstaufführung „Berlin Bertie" des Briten Howard Brenton (Regie Sewan Latchinian). Das Schiller Theater leistete einen gewissen Beitrag: „Die schöne Fremde" von Klaus Pohl (Regie Wilfried Minks); auch das theater 89: „Das Lachen und das Streicheln des Kopfes" (Regie Hans-Joachim Frank).

Wenn ich die zahlreichen Premieren im einzelnen erinnere, fällt mir auf, wie unterschiedlich produktiv die Theater waren. An der Spitze stand die Volksbühne, am Ende die Schaubühne, ein Haus, das - bei der Gelegenheit sei es gesagt - künstlerisch sehr vom einstigen Ruhme zehrt. Selbst Andrea Breths opulente Inszenierung „Von morgens bis mitternachts" von Georg Kaiser traf den Zeitnerv kaum.

Das war (und bleibt) die kardinale Schwierigkeit lebendigen Theaters: Findet der Regisseur, wenn er sich für ein Stück entscheidet, eine Lesart, die auch seine potentiellen Zuschauer stimuliert? Peter Zadek arbeitete am Berliner Ensemble für das „Wunder von Mailand" nach Zavattini mit leidenschaftlicher Hingabe. Just bei dieser Aufführung offenbarte sich, wie schwer es derzeit das Theater hat, eine soziale Botschaft, ein wenig Hoffnung auf Gerechtigkeit beispielsweise, über die Rampe zu bringen. Vielleicht sollte das Berliner Ensemble in Bischofferode gastieren.

Welche Regisseure empfahlen sich noch? Ich denke an Carl-Hermann Risse und seine Inszenierung des „Ghetto" von Joshua Sobol im Maxim Gorki Theater mit Götz Schubert, an Markus Völlenklee und „Die Präsidentinnen" von Werner Schwab in der Schiller Werkstatt mit Liselotte Rau, Ursula Karusseit und Sabine Orleans, an Wolfgang Engel und „Britannicus" von Racine im Schiller Theater mit Sylvester Groth, an Siegfried Bühr und den „Volksfeind" von Henrik Ibsen am Maxim Gorki Theater mit Klaus Manchen, an Jürgen Gosch und „Amphitryon" von Kleist am Deutschen Theater mit Dagmar Manzel, an Alfred Kirchner und den „Besuch der alten Dame" von Dürrenmatt am Schloßpark-Theater mit Anneliese Römer und Ekkehard Schall, an Harald Clemen und den „Elysian Park" von Marlene Streeruwitz am Deutschen Theater (Uraufführung) mit Christine Schorn, Gabriele Heinz und Simone v. Zglinicki.

Mithin und zusammengefaßt: Die besten Chancen beim Zuschauer hat noch immer faszinierende realistische Schauspielkunst. Bedient sie zudem zeitfühlig und aufrüttelnd aktuelle, in der Luft liegende Themen, kann sie zum Publikumsrenner werden. Wenngleich nicht zu übersehen ist, daß die Umschichtung des Berliner Publikums, der Verlust wichtiger Besuchergruppen vor allem im Osten der Stadt, von den Theatern aufgefangen werden mußte. Ein unsäglicher Trend im Grunde! Theater nur noch für „feine" Leute. Ist das die Perspektive in Berlin?

Im übrigen: Ich gehe hier und heute bewußt nicht mit den Flops der Saison hausieren. Zumindest so lange nicht, wie der Senat daran seine Suppe kocht. Fest steht, ohne das subventionierte Schiller Theater verliert die Berliner Theaterlandschaft an Profil. Und Theater von Geschäftemachern für Geschäftemacher ist keine Alternative für die deutsche Hauptstadt.

 

 

Neues Deutschland, 16. August 1993