„Rotter“ von Thomas Brasch am Berliner Ensmble, Regie Christoph Schroth

 

 

 

Märchen aus Deutschland

 

Verklärung der Historie im Berliner Ensemble in der allerletzten DDR-Erstaufführung eines Gesellenstückes dreizehn Jahre nach seinem Erscheinen? Ich kann das nicht finden. „Rotter" von Thomas Brasch als ein „Märchen aus Deutschland" zu spielen, ist der gelungene Versuch des Regisseurs Christoph Schroth, dem Helden des Dramas ästhetisch gerecht zu werden, ihn nicht zu diffamieren, obwohl das leicht, auch aktuell und hier oder dort gewiß gern gesehen gewesen wäre.

Schroth erzählt, dem Autor folgend und dessen wirres Stück-Ende auch ein wenig profilierend, wahr die Geschichte eines blonden deutschen Jünglings, der in Nazi-Deutschland sein Ideal sah, für das zu kämpfen er antrat. Und der, betrogen und enttäuscht, als junger Mann noch einmal Tritt zu fassen suchte, nun beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft. Und der abermals enttäuscht scheiterte.

Insofern verkörpert dieser Typ nicht direkt die DDR, wie das die Regie fälschlich kurz assoziiert, wenn sie dessen Bahre mit der DDR-Fahne bedeckt. Aber Rotter steht gewiß für diesen oder jenen heute sechzig-, siebzigjährigen Leiter dieses Landes, der seinen selbstlosen Einsatz für eine neue Zeit still als eine Art Wiedergutmachung am Menschen betrachtete für Untaten, die er unter faschistischem Kommando hatte begehen müssen.

Solch mögliche Zusammenhänge finden sich freilich schon beim Autor nur angedeutet. Er sah in seinem Helden eine „Nebenfigur, die nur atmen kann, wenn ihr der Wind ins Gesicht schlägt", ein funktionierendes „Instrument" in der Hand der jeweils führenden Klasse. Aber auch dieser Brasch wesentliche Aspekt ist von ihm nur angerissen und wird dramaturgisch überdeckt von einer unerfülltem, glücklosen Liebe, die Rotter zu Elisabeth zieht, und einer Männerrivalität zum Jugendfreund Lackner, der auch ein Auge auf die Schöne geworfen .hatte.

Schroth hat für die zerrissen-widersprüchlichen, immer irgendwie absurden Vorgänge eine Lesart gefunden, mit der er das aus heutiger Sicht schier Märchenhafte aufdeckt, es szenisch glaubhaft verbindet und mit der er auch dort verbindlich bleibt, wo realistische Direktheit barsche Schlüsse nahegelegt hätte. Etwa den, daß dieser Rotter-Typ als ein unter jedem Regime willfähriger seelenloser Führer immer wieder einsetzbar ist, auch künftig in Deutschland. Schroths Rotter ist eine grotesk-tragische Gestalt, ein in die Geschichte verstrickter Mensch, ein Kind und Opfer der Zeiten.

Dieses an Shakespeares bittere Märchenkomödien erinnernde Schicksal nicht oberflächlich bissig, sondern theatralisch substantiell zu bieten, hilft exzellent Bühnenbildner Lothar Scharsich. Er überdeckt das barockige Interieur des BE-Zuschauerraumes mit üppigem Wald. Über alle Widrigkeiten menschlichen Handelns wächst symbolisch gleichsam immer wieder das strotzend gesunde, neutralisierende Grün der Natur.

Auf der Bühne Scharsichs indessen dominieren bizarre Gebilde verkrüppelten Waldes. Besonders sinnfällig ist dieser Hintergrund in der Szene, in der junge Soldaten in Babybettchen hockend auf ihren Fronteinsatz warten. Wer erinnert sich nicht an Hitlers Verbrechen, halbe Kinder in seinen längst verlorenen Krieg zu schicken. Und Rotter war einer ihrer Kommandeure — der freilich anders als seine noch umkommenden jungen Untergebenen die schwarze Uniform des Todes noch rechtzeitig auszuziehen verstand.

Beredt ist auch die als steif-höfisches Zeremoniell inszenierte Auszeichnung Rotters als Held der Arbeit vor geborstenen Bäumen und hellen Neubauten. Rotter ist nun ein ergrauter Mann, der Talsperre, Kraftwerk und Erdölkombinat gebaut hat und noch immer von neuen Bauten träumt. Aber er wird von der Macht nicht mehr gebraucht und dreht durch, erleidet einen Herzanfall.

Die Aufführung am Haus mutet an wie ein erfrischender Aufbruch und wird getragen vom Stamm seines treuen Ensembles und von talentierten Nachwuchskräften. Den Rotter besetzte Schroth mit Matthias Wien, einem großen schlanken Darsteller, der der Figur zunächst die stramme Gehorsams-Zucht der Nazis gibt und dann die penetrante Überheblichkeit funktionierender Leiter.

Deborah Kaufmann zeichnet das liebeshungrige Mädchen Elisabeth ebenso überzeugend wie die gealterte, vom Leben zerstörte Frau. Den verkommenen, letztlich tragisch endenden Rivalen Lackner markiert Veit Schubert mit kräftigen, keineswegs, äußerlichen Strichen. Stellvertretend für das auch sprecherisch vorzüglich agierende Ensemble zu nennen noch: Jaecki Schwarz (Dehler), Martin Seifert (Becker), Nadja Engel (Härtel), Hans-Peter Reinecke (2. Arbeiter), Michael Gerber (3. Arleiter). Plastisch sich einfügend die Musik: Rainer Böhm.

In Anwesenheit des Autors herzlicher Beifall eines spürbar bewegten Publikums. Bravo-Rufe.

 

 

Neues Deutschland, 1. Oktober 1990