„Die Möwe“ von Tschechow im Künstlertheater Riga, Regie A. Lininsch

„Die letzte Barriere“ von A. Dripe, Regie A. Lininsch

„Romeo und Julia“ von Shakespeare am Theater für junge Zuschauer Riga, Regie A. Schapiro

„Maja und Paja“ von A. Brigadere am Schauspielhaus Riga, Regie A. Jaunuschan

„Tüchtige Leute“ von W. Schukschin im Theater für russische Dramen Riga, Regie L. Beljawski

 

 

 

 

Ausdrucksstark und publikumswirksam

 

Die Hauptstadt der Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik mit ihren über 780000 Einwohnern lädt nicht nur mit dem einmaligen Reiz ihrer mittelalterlichen Altstadt ein, mit der hellen Freundlichkeit ihrer Neubaugebiete oder mit dem nahen Ostseestrand — auch mit sehenswerten Theateraufführungen. In Riga spielen in lettischer und in russischer Sprache sieben Theater — das Staatliche Akademische Theater für Oper und Ballett, das Staatliche Akademische Schauspielhaus, das Staatliche Akademische Künstlertheater »J.Rainis« (bald in einem neuen Haus), das Rigaer Staatliche Theater für russische Dramen, das Theater für junge Zuschauer, das Operetten-Theater und das Staatliche Puppentheater.

Mein Interesse galt den Schauspielbühnen. An vier Tagen konnte ich sieben Aufführungen (zwei Generalproben, eine Nachtvorstellung) besuchen. Das war wenig angesichts der reichhaltigen Spielpläne (»Brand« von Ibsen am Künstlertheater konnte ich nicht sehen, eine der zwanzig besten Aufführungen in der Sowjetunion im Jahre 1976, auch »Ole Bienkopp« nicht, die Bearbeitung des Strittmatter-Romans), vermittelte dennoch einen anschaulichen Eindruck. Von einigen Aufführungen sei berichtet.

 

Tschechows »Möwe« im Künstlertheater. In Bühnenmitte ein vorweggenommener marmorner Sarkophag. Der Scheinwerferkranz heruntergezogen, einen magisch-zirzensischen Lichtkreis auf den Bühnenboden werfend. Schwarzer Gaze-Rundhorizont. Davor die agierenden Figuren hell und plastisch im Scheinwerferlicht. Dahinter hin und wieder Gestalten oder Gesichter schemenhaft aus dem Dunkel herausgeleuchtet und so ins Spiel einbezogen. Dazu diffuse, dumpf-wehklagende Töne aus dem Hintergrund. Ein relativ abstrakter Bühnenraum also, unmittelbar vorgegebene Atmosphäre, zugleich Verzicht auf klare historische Ortung des Geschehens. Auf dem Sarkophag werden die zentralen Auseinandersetzungen des Stücks gespielt — hierauf agiert Nina in Trepljows theatralischem Opuskulum, hierauf wälzt sich die hoffnungslos liebende Mascha, hierauf erschießt sich Trepljow. Kräftig und direkt wird genommen, was bei Tschechow behutsam und vermittelt anklingt. Die ausgestopfte Möwe ist nicht diskret im Schrank verwahrt, sie steht programmatisch einsam in der Szene.

Ohne Zweifel versteht sich diese Inszenierung A. Lininschs, des Chefregisseurs des Theaters, als deutliche Eigenwilligkeit gegenüber tradierter Lesart. Ein sozial konkret gegebener Sachverhalt wird allgemein dargelegt: unmöglich, sich als Mensch zu verwirklichen. Die Figuren-Beziehungen erwachsen vornehmlich aus der Regie-Intention, ohne die Schauspieler einzuschnüren. Die junge Elita Krastinja gibt eine grazile, nervig-anfällige Nina, jugendlich-naiv in der Hoffnung, erfreulich unsentimental in der Enttäuschung. Iwar Kalnins Trepljow ist kräftig im Naturell, dadurch die Tragik der unerfüllten Liebe akzentuierend.

 

Iwar Kalnin spielt auch den Sument in der erregenden Inszenierung der »Letzten Barriere«, einer Novelle von A. Dripe in der Bühnenbearbeitung von A. Lininsch. Sument wird wegen strafbarer Handlungen in die Erziehungs-Kolonie für minderjährige Verbrecher eingeliefert, bleibt dort uneinsichtig und störrisch, versucht auszubrechen. Kalnins Sument ist von gefährlicher Hinterhältigkeit und in dieser Lebenshaltung als eine Art gegebene Größe fixiert, als etwas, das zwar irgendwie so geworden sein muß, nun aber im Gewordensein verharrt. Kalnin wertet das Verhalten seiner Figur nicht, er gibt sie direkt, unmittelbar, schonungslos. Das wird zur Frage, die nun allerdings auch an den Bearbeiter und Regisseur A. Lininsch zu richten ist.

Ohne Zweifel sind Thema und Stoff der Novelle prädestiniert für eine Bühnenbearbeitung. Das Leben in solch einer Kolonie ist ebenso außer- wie ungewöhnlich. Unendliche Geduld und Ausdauer der Erzieher auf der einen, hartnäckige Unbotmäßigkeit der Zöglinge auf der anderen Seite erlauben ein Kaleidoskop äußerst theaterwirksamer Abläufe und Vorgänge, von A. Lininsch betont expressiv arrangiert. So etwa, wenn die Horde der Halbwüchsigen sich am Gedanken berauscht auszubrechen, und ihr wilder Freudentaumel unversehens umschlägt in schreiende Aggression gegen das Publikum, gleichsam zum provokatorischen Appell wird an die Eltern, derlei mögliche Eskalation bereits im Elternhaus zu verhindern. Oder etwa, wenn Puma (Akveline Livmane), die liebeshungrige Geliebte des Sument, vorm Lagertor in lüsterner Verzweiflung ihren Gefühlen freien Lauf läßt, ein Aufschrei gequälter Kreatur. Diese und andere Szenen — etwa das mit stoisch­militanter Exaktheit ablaufende Zeremoniell des alltäglichen Essenfassens — sind von nervender theatralischer Brisanz, gehen unter die Haut.

Indessen — und das wäre zu fragen — scheinen mir die Tatbestände zu sehr als gegeben zu theatergemäßer Wirkung hochgespielt und zu wenig als historisch prozeßhaft, veränderbar. Die feierliche Entlassung einiger Zöglinge z. B. mutet fast an wie das Ungewöhnliche, das erbarmungslose, mörderische Ausbrechen der Sument-Bande hingegen wie das unabwendbar Gewöhnliche. Kritisches Bewerten von Vorgängen und Figuren-Verhalten, das ich ansonsten nicht vermißte, hier erschlösse es dem Stück und der Inszenierung eine noch produktivere Dimension.

Praktikabel die Bühnenbild-Lösung: ein System von Treppen, Plätzen, Übergängen, eine miteinander verflochtene Metall-Konstruktion, von trübem Licht beleuchtet. Unversehens stellt sich beim Betrachter das Empfinden des Unentrinnbaren her, des Ausweglosen auch in dem Sinne, daß solch eine Kolonie tatsächlich die letzte Barriere ist gegenüber völligem Abgleiten gefährdeter, haltloser Jugendlicher. Ein bitteres Stück, aufwühlend in seinem Appell an die Eltern, ihren Kindern Halt und Geborgenheit zu geben. Und das Bühnenbild steht unmittelbar im Dienste dieser poetischen Idee.

 

Die Ambition, mit dem Bühnenbild direkt der Stück-Idee zu dienen, war augenfällig auch bei »Romeo und Julia« am Theater für junge Zuschauer. Die von A. Schapiro besorgte Inszenierung der russischen Truppe dieses Theaters gefiel durch die übersichtlich-nachvollziehbaren Arrangements, auch durch den wirklich jungen, naiv-forschen Romeo (J. Jakobson), insbesondere auch durch das Bühnenbild A. Freibergs. Die Guckkastenbühne war mit schweren, dunkelrotbraunen Wandteppichen ausgehängt, Abgänge nach links, rechts und hinten ermöglichend. Ringsum in Griffhöhe steckten in vergoldeten Ösen zahlreiche Degen, in den diversen Gefechten schnell ergriffen und herausgezogen. Inmitten der Bühne, inmitten dieser kriegerischen Umwelt also, stand ein Taubenschlag, zugleich als Julias Balkon eingerichtet. Eine beredte Bühnenbild-Lösung, wenn sie auch manchmal zwang, reale Figuren-Beziehungen zugunsten theatralisierter zu vernachlässigen.

 

Durchweg theatralisiert wirkte die Aufführung des Märchens »Maja und Paja« von
A. Brigadere am Schauspielhaus in der Inszenierung von Chefregisseur A.Jaunuschan — freilich eine gelungene Theatralisierung einer recht verschlungenen und vielleicht auch etwas langwierigen Märchenhandlung. Maja, dem guten, fleißigen Mädchen fällt die Spindel in den Brunnen. Sie möchte die Spindel herausholen und purzelt hinein. Paja, die faule Stiefschwester, folgt dem Rat einer Fee und springt hinterher. Viele Stationen nun bis sich das Gute durchzusetzen vermag. Berggeister, Teufel und Himmelsfeen werden bemüht. Die Inszenierung lebt von vielen originellen Einfällen. Possierlich der Auftritt der zottigen Teufel in ruheloser Geschäftigkeit oder das muntere Bad der Berggeister nach wasserlosen Jahrhunderten. Motive aus Grimms Märchen klingen an. Wie nahe doch sind sich die Völker auch in ihren Märchen.

 

Ungeteiltes Vergnügen schließlich bei den »Tüchtigen Leuten« von W. Schukschin am Theater für russische Dramen. Regisseur L. Beljawski hatte eine glückliche Hand bei der Besetzung sowie für den Rhythmus und den Ton dieser Komödie. Das ist das Beeindruckendste: der zügige freundlich-komödiantische Ablauf bei vorzüglicher Zeichnung der Figuren. Die Gaunertruppe agiert — bis auf den Getränkelieferanten — in picobello schwarzen Anzügen, ein Sortiment von Typen, allesamt in den besten Jahren, Neureiche, die sich ungebrochen und fröhlich ihrer gelungenen Geschäfte erfreuen. Der Hausherr (W. Bogoljubow) klein, agil, mit Brille, der Typ eines mittleren, nicht unintelligenten rechtschaffen-cleveren Beamten. Er hat eine wahrhaft köstliche Schreckschraube zur Frau (L. Golubewa), einen verbiesterten und grimmig-eifersüchtigen Hausdrachen. Als er ihren Brief findet, liest er mit schwerem Kopf, kommt er über das Wort »Kopie« nicht hinaus, nimmt er einen Schluck, bleibt wieder stecken, kramt er nach der Brille, schnarrt nun wie im Dienst die Sätze herunter, begreift endlich, stockt — ein glänzend gespieltes Kabinettstück.

Vor allem und endlich: Am Auftritt der Miliz zerbricht die Komödie nicht, im Gegenteil, sie hat ihren Höhepunkt. Die lustige Gesellschaft, noch eben den Sieg über Vera hinterlistig mit ihr feiernd, hat fidelen Schwung trotz aufkommendem Zähneklappern. Da wird noch mit der Miliz gewitzelt, und die Milizionäre verstehen Spaß. Unversehens aber befinden sich die Ertappten im ehelichen Himmelbett, das sich durch wenige Handgriffe der hausdurchsuchenden Milizionäre ins Hinterteil eines Lastwagens verwandelt, auf dem das polizeiliche Kennzeichen das zu erwartende Strafmaß anzeigt: 15—20 let. Großer, herzlicher Applaus.

 

Gewiß sind vorschnelle Verallgemeinerungen fehl am Platze. Doch dies läßt sich sagen: In Riga begegnet der Gast einem ausdrucksstarken, expressiven Theaterspiel,. das sich — wie übrigens auch in Moskau und in Leningrad — nicht unmittelbar an das rationale Verständnis des Zuschauers wendet, sondern primär an dessen ästhetische Empfindsamkeit. Der Zuschauer wird nicht mit Intellekt auf Deutungen und Bedeutungen gestoßen, er wird in seiner kreativen Erlebnisfähigkeit gefordert, und dies betont artifiziell mit offenkundiger Abneigung gegenüber überkommenen Naturalismen.

 

 

 

Theater der Zeit, 7/1977