5. In dunkler Zeit
(1933 – 1945)
In der Erinnerung Gerhard Meyers lebt Woldemar Runge als ein «gealterter Sänger». (5.24)
Runges Kraft reichte nicht einmal mehr, wenigstens
die Existenz der Schule zu sichern. Er hatte vor allem nicht die finanziellen Mittel dafür, war wohl auch nicht geneigt,
die faschistischen Behörden um Hilfe anzugehen.
Aber seine Schüler waren nicht
gewillt, den Niedergang der Schule hinzunehmen. Im
Frühsommer 1937 kam es zu einer regelrechten Revolte der A-Klasse.
«Es war so», berichtet Regine Toelg-Lange, nach
1945 Sprecherin beim Demokratischen Rundfunk, «wir hatten einen Lehrer,
das war Heinz Dietrich Kenter. Diesen Lehrer verehrten wir sehr, weil wir wußten, daß wir bei ihm ungeheuer viel gelernt haben... Er hatte eine sehr ruhige, sehr menschliche
und bei aller Distanz auch eine gewisse
freundschaftliche Haltung. Er nahm uns einfach ernst... Und der sollte
abgelöst werden, und zwar auf eine krumme
Tour durch den Erwin Linder... Wir
hatten durch die ganze Art das
Empfinden, daß Herr Linder von staatswegen eingestellt werden sollte...
Das haben wir uns nicht bieten lassen... Es
war natürlich ein jugendlicher Trotz auch dabei... Da man mit Herrn
Runge nicht reden konnte, der war krank
geworden... sagten wir, wir müssen in die Höhle des Löwen, wir müssen in die Reichstheaterkammer... Wir erreichten zumindest
eines: daß diese Geschichte durch das gesamte
Berliner Theaterleben ging... und wir, das muß ich sagen, ziemlich viel
Sympathien bekamen, zumindest sehr viel
Sympathiebeweise von der Staatlichen
Schauspielschule, von den Schülern dort... Wir machten mit denen sogar so eine Art Solidaritätstreffen.
Für damalige Zeiten etwas Unglaubliches...»
(5.25)
Heinz Dietrich Kenter im
Schauspielunterricht
«Wir bemerkten mit Mißbilligung»,
erzählt Wilhelm Koch-Hooge, «daß der Unterricht an
Qualität verlor; der Lehrbetrieb sollte wohl
billig werden. So setzte man uns einen ganz alten
Mimik-Lehrer vor, gegen den noch der sprichwörtliche Schmierenkomödiant
Striese aus dem "Raub der Sabinerinnen" hätte bestehen können. In grob vordergründiger Manier suchte er uns beizubringen, wie Freude und
Trauer durch förmliche Gesichtsverrenkungen darzustellen seien. Wir besaßen
aber schon ein ziemlich sicheres Empfinden für Theater, weil wir gutes ja fast allabendlich sahen.
Woldemar Runges altväterische
Beschwichtigungsversuche unseres Protestes zeugten von bedauerlicher Verständnislosigkeit: "Sie müssen
schließlich auch dies lernen. Die mimischen Ausdrücke im Theater sind nicht unwichtig." Das wußten wir
selber; wir wehrten uns gegen das äußerliche Gehabe. Der Schülerunmut gelangte vollends zum Ausbruch, als der unserer Meinung nach fähigste Lehrer
gehen sollte: Heinz Dietrich Kenter, Regisseur an der Volksbühne und als seines tatsächlichen Wertes bewußter Mann für
Runge auf die Dauer offenbar zu teuer.
Gerade ihm verdankten wir ermutigende Fortschritte beim Szenenstudium. Wir murrten lauter und zuletzt unüberhörbar, beschwerten uns mündlich wie schriftlich bei Runge und
weit über die Schule hinaus bei allen uns geeignet erscheinenden
Persönlichkeiten und Institutionen und erzwangen
damit eine Sitzung des Schuldirektoriums.
Dem Ergebnis fieberten wir in einer nahegelegenen Gaststätte entgegen. Der
Bescheid verwandelte unsere nervöse Erwartung schlagartig in helle
Empörung - Klasse komplett entlassen, keine Gnade, alle 'raus!» (5.26) Gabriele Hartmann erinnert sich: «Wir haben gesagt,
das weiß ich noch sehr gut: "Wenn Kenter nicht bleibt, dann gehen wir
auch!" Und daraufhin wurde uns klipp und klar bedeutet: "Na
bitteschön, dann geht ihr, wir können euch nicht gebrauchen."» (5.27)
Der Vorgang löste eine Lawine aus. Die Schüler suchten
Unterstützung, wo sie sie zu finden hofften, bei Heinz Hilpert, vor allem aber
bei ihren Eltern. Kurt Werth, ein Mitschüler, der vorher schon
Theaterwissenschaft studiert hatte, und Gabriele Hartmanns Vater,
Stadtmissionar in Berlin, erreichten in geschickt geführten Verhandlungen, «daß
wir wieder aufgenommen wurden, aber unter der Bedingung, nicht mehr im Hause zu
sein. Die Lösung war: Die "Tribüne" stand leer, dorthin wurde die
Schule verlegt. Wir haben es als Verbannung empfunden.» (5.28)
Mit der Zurücknahme des Rausschmisses war die Sache nicht
bereinigt. Der schwerkranke Runge warf das Handtuch, Heinz Dietrich Kenter
amtierte kurzzeitig. (5.29) Der von Ludwig Körner, 1937
stellvertretender Geschäftsleiter der Reichstheaterkammer, als neuer Direktor
ins Auge gefaßte Hugo Werner-Kahle, bisher Disponent im Bühnennachweis, gab der
Reichstheaterkammer im August 1937 seine Einschätzung: «Die bisherige
Schauspielschule sieht nach dem vorliegenden Bild sehr trübe aus. Schwaches
Schülermaterial, Streit der Lehrer, Streik der Schüler. Die Gründe hierfür: Der
schon lange kränkelnde Leiter, plus seiner schlechten pekuniären Situation.
Ohne finanzielle Unterstützung, die Hand in Hand mit einer ideellen Förderung
geht, ist eine leistungsfähige und verantwortungsbewußte Schule nicht zu
führen. Der Leiter ist sonst gezwungen, wahllos um jeden Preis Schüler
aufzunehmen... Herr Direktor Hilpert macht von sich aus folgendes Angebot: Die
Schule heißt fortan "Schauspielschule des Deutschen Theaters" und
steht unter der Oberaufsicht Direktor Hilperts. Direktor Hilpert stellt der
Schule die Staatsschauspieler Karchow, Dahlke und Hübner als Lehrer zur
Verfügung, und zwar zunächst auf Kosten des Deutschen Theaters...» (5.30) Vierzehn Tage später reichte Hugo Werner-Kahle eine
Kostenberechnung nach, die auch die Mittel für neue Schulräume in dem Theater
«Tribüne» vorsah. Inzwischen war die Entscheidung unaufschiebbar geworden.
Woldemar Runge war verstorben.
Studenten
der Jahrgänge 1936 und 1937
Anmerkungen:
5.24
HS-Archiv, Bl. B 49 Gespräch m.
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5.25
Regine Toelg-Lange v. 23.9.1985, HS-Archiv, Tonb.-Aufz.; Erwin Linder war 1935/36
Schauspieler in Mannheim. Zurück zum Text
5.26
HS-Archiv, Bl. B 52/53
5.27
Gespräch m. G. Hartmann, a.a.O. Zurück zum Text
5.28
Ebenda. Zurück zum Text
5.29
Vgl. HS-Archiv, Bl. 708; vgl. auch Brief v. Gertrud Borck an Hans Kaufmann
v. 19.12.1947, HS-Archiv, Bl. 611. Zurück zum Text
5.30
Zentrales Staatsarchiv Potsdam, Promi, Akte-Nr. 280, Bl. 39 Zurück zum Text
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