„Die
Reiterarmee“ von Wsewolod Wischnewski,
Volksbühne
Berlin,
Regie
Kurt Jung-Alsen
Ssyssojews Weg in die Zukunft
Der
junge russische Soldat Ssyssojew muß
vor dem Bett des Unteroffiziers mit gezogenem Säbel Wache halten, da er eine
Säbelübung nicht richtig ausgeführt hat. Der Leibdragoner des
Zaren murrt nicht. Er bekommt vom Fähnrich zwei Zähne eingeschlagen, da eine Gewehrübung nicht exakt genug war. Der Leibdragoner des
Zaren murrt nicht. Und weil der Fähnrich eine Wette gewinnen will, muß der Soldat Ssyssojew im
Kugelregen der deutschen Scharfschützen auf den Grabenrand klettern und mit
gezogenem Säbel Posten stehen. Der Leibdragoner Ssyssojew
fragt: „Wozu nur?" und steigt in den Tod. Doch die Deutschen schießen
nicht. Der Kegel ihres Scheinwerfers erfaßt ihn und
sie rufen: „Genossen... Kamrad... Ruuss!" Ssyssojew lebt, und
in ihm glimmt der Haß gegen seine Peiniger. So haßt er, so haßt das russische Volk. Der Zar wird gestürzt, aber die
Provisorische Regierung erfüllt nicht die Hoffnungen der Soldaten. Der große
Oktober endlich bringt den Frieden. Die Soldaten strömen nach Hause. Auch Ssyssojew. Erkennt er die neuen Feinde, die den eben
gewonnenen Frieden bedrohen? Noch nicht. Aber er wird sie erkennen. Eine
Kosakenbande des weißrussischen Generals Kornilow
plündert sein Heim. Da geht Ssyssojew zu den Roten,
zum ersten Sozialistischen Arbeiter- und Bauern-Kavallerieregiment.
Und so wie er gehen Tausende, Zehntausende; kämpfend, siegend für die
Errungenschaften der Revolution.
Von
der Kaserne der zaristischen Kavallerie bis hin zum Klub der Komsomolzen
entwirft Wsewolod Wischnewski, Autor der
„Optimistischen Tragödie" und des Films „Wir aus Kronstadt", ein
grandioses Gemälde vom Befreiungskampf des russischen Volkes aus den Ketten des
Zarismus und aus den Umklammerungen der Intervention.
In den Zyklen „Die zaristische Armee 1913", „Der Weltkrieg 1916/ 1917",
„Revolution 1917" und „Bürgerkrieg 1918/1920" gibt er eine packende Reportage
von der Geburt und vom Sieg der Reiterarmee des Landarbeiters Budjonny, formt er Charaktere von einprägsamer
Individualität. Jeder Zyklus besteht aus mehreren Episoden, zusammengehalten
durch die verbindenden Worte eines Sprechers, der vom Autor als Gewissen,
Gedächtnis, Bewußtsein und Herz der sowjetischen
Menschen gedacht ist, also als ein Vertreter des Publikums, das damit
unmittelbar in die Handlung einbezogen wird.
Hier
liegen Schwierigkeiten für eine Inszenierung; denn das deutsche Publikum
erlebt die „Reiterarmee" selbstverständlich anders als das sowjetische.
Bei uns ist der Sprecher kein Vertreter des Publikums, er wird vielmehr in die Rolle
eines passiven Kommentators gedrängt und seine aktive, die Szenen verbindende
und den Bogen der Gemeinsamkeit vom Publikum zur Bühne spannende Funktion
geschwächt. Aber selbst diese Rolle des Sprechers hat die Regie der Berliner
Aufführung unterschätzt; denn Günther Simon bleibt zu sehr ein Erzähler am
Rande. Er hält nicht die in einem Bild erreichte Spannung, sie sinkt von Bild zu
Bild immer wieder ab, und dadurch gewinnen die einzelnen Episoden zwar an
Eigenleben, aber die Gesamtheit des Geschehens verliert an Intensität.
Kurt
Jung-Alsen, der das Werk bereits in Halle inszenierte, bewährt sich beim
Profilieren der Episoden. Ihnen gibt er in dem sich auf das Notwendigste
konzentrierenden Bühnenbild von Roman Weyl —
unterstützt von der Musik Hanns Eislers — jene überzeugende Kraft, die man
sich für die gesamte Aufführung gewünscht hätte.
Hansjoachim
Hanisch spielt den Ssyssojew breit und kräftig,
angesiedelt in seinem etwas behäbigen Naturell, sich aber überwindend zu
lebendiger, zustoßender Aktivität. Das Aufbegehren dieses Ssyssojew
ist wie das Rütteln eines Tieres an seinen Ketten, unbeholfen anmutend
vielleicht, aber voller Energie; sein Erwachen zu bewußtem
Denken ist wie das Hervorbrechen urmenschlichen Sehnens und Begehrens.
Ganz
anders Edwin Marian. Er kennt sich genau. Weich und beherrscht, von bestrickender
Ungezwungenheit, keck und liebenswürdig spielt er den Kosaken. Dem Fähnrich
verleiht Wilfried Ortmann die Züge eines kaltschnäuzigen, zynischen und
heuchlerischen Despoten. Harry Hindemith gibt den Kommissar zielklar
und korrekt, mit geradezu bewundernswürdiger Einfachheit und Schlichtheit.
Ebenso sicher und kraftvoll ist Franz Kutschera als Budjonny,
warm und voller Gemüt, verschmitzt und guter Laune, ein erfahrener
Revolutionär. Auch Albert Garbe als Brückenkämpfer strahlt die überlegene Ruhe
jener Krieger aus, die sich der Gerechtigkeit ihrer Sache zutiefst bewußt sind. Diese Ruhe finden wir auch bei dem
ursprünglichen und etwas schnoddrigen Kämpfer Rolf Ludwigs. In weiteren Rollen
bewähren sich Herbert Grünbaum, Armin Mueller-Stahl,
Steffie Spira, Harry Riebauer, Peter Marx und Gerry
Wolf.
SONNTAG, 4. März 1956