„Eines langen Tages Reise in die Nacht“ von
Eugen O’Neill am Maxim Gorki Theater Berlin, Regie Arie Zieger
Das Debakel einer Familie
Erbärmlich und beklagenswert, wenn Menschen kaum anderes im Kopf haben als die Sucht, sich gegenseitig Schuld zuzuweisen. Der Amerikaner Eugen O'Neill (1888-1953) führt es vor in seinem Schauspiel „Eines langen Tages Reise in die Nacht". Die quälende Tortur ist jetzt am Berliner Maxim Gorki Theater zu besichtigen. Bohrendes, selbstzerstörerisches traumatisches Wühlen in der Vergangenheit.
Eine amerikanische Familie aus dem
Jahre 1912. Relativ wohlhabende Leute. Sie hadern gründlich mit ihrem
Schicksal. Weshalb, ist nicht so recht schlüssig. Ein echt Schuldiger wird denn
auch nicht gefunden. Klar wird nach drei Stunden, daß Vater James Tyrone, ein
Schauspieler im Ruhestand, alkoholsüchtig ist wie auch seine erwachsenen Söhne
James und Edmund. Und daß die rheumakranke Mutter Mary ihre Arznei wie Rauschgift
konsumiert.
Warum sich Zuschauer das Debakel dieser
Familie ansehen sollen, hängt vermutlich damit zusammen, daß das Stück nicht
nur als eine Beichte des Autors anzusehen ist, der seinen Familienfrust abreagierte
(weshalb es erst 25 Jahre nach seinem Tode aufgeführt werden durfte), sondern
weil es zum Zyklus der Stücke gehört, mit denen O'Neill die allgemeine
Profitsucht der Amerikaner geißeln wollte. Bei James Tyrone hatte die Geldgier
dazu geführt, daß er, als er noch arbeitete, aus panischer Angst vor Armut im
Alter alles Geld in Grundbesitz anlegte und daß er knauserte, wenn ein
Familienmitglied erkrankte. Stets zog er einen billigen einem teuren Arzt
vor. Gewiß, das sollte man ihm zum Vorwurf machen. Aber mußte Mutter Mary
deswegen Morphinistin werden? Müssen die Männer deswegen Whisky kippen wie
Wasser? O'Neill, der die Tragödie als Möglichkeit des Theaters so überaus schätzte,
hat sich um die eigentliche, nämlich die soziale Tragödie herumgemogelt. Sein
Fall ist traurig, Sonst nichts!
Arie Zieger, zum ersten Mal am Gorki Theater Regie führend, war auf ein
Bühnenbild Götz Loepelmanns angewiesen, der den Intentionen O'Neills, eines
peniblen Naturalisten, nicht nachging. Lässigkeit im Umgang mit dem Autor
machte aus dem alten, abgewohnten Sommerhaus verwinkelte, geschmacklose Wände
mit Türen, Treppe, Terrasse und Blick zum Meer, gefertigt und anzusehen als Kulisse,
nicht als konkreter Spielraum. Die Folge: Der Regisseur hat Mühe, glaubhaft natürliche
und nicht theatrale Beziehungen zwischen den Figuren herzustellen. Da er zudem
während der Exposition mehr hinaus aufs Meer denn hinein in den Zuschauerraum sprechen
ließ, konnte man bis zuletzt nur schwer teilnehmen an der allmählichen
Eskalation des Desasters. Nach der Pause überzeugte das Spiel am ehesten. Da
hatte man sich denn wohl eingewöhnt.
Als Vater Tyrone agiert Klaus Manchen, breitbeinig und im Habitus eines
trinkfesten Seemannes, aber sensibel, sehr darauf bedacht, seiner Mary nicht
wehzutun, die er auf seine bärige Weise nach wie vor liebt. Die Mary ist bei Monika
Lennartz ein zerbrechliches Wesen, zunächst von blühender Jugendlichkeit (von
Marlies von Soden trefflich gekleidet), doch nervös anfällig immerzu, dann
merklich gealtert. Andrea Zogg gibt einen irisch stiernackigen, derben James
Junior, Thomas Schmidt den intelligenten, an Tuberkulose erkrankten Edmund.
Beide übrigens bei leisen, empfindsamen Dialogen nicht zu verstehen. Katka Kurze
präsentiert ein robustes, naiv in den Herrn verknalltes und einen Tropfen
Alkohol nicht verachtendes Dienstmädchen.
Neues Deutschland, 23. Januar 1995