„Die Ratten“ von Gerhart Hauptmann am Maxim Gorki Theater Berlin, Regie
Uwe Eric Laufenberg
Maurerpolier John greift zur Waffe
Mehrmals Szenenbeifall zur Premiere von Gerhart Hauptmanns Tragikomödie »Die Ratten« im Berliner Maxim Gorki Theater. Und zwar, als Thomas Schmidt als Pastorensohn Erich Spitta (von der Theologie abgesprungen, weil ihm der Predigerton zuwider) dem deutschnationalen Theaterdirektor Hassenreuter mit natürlicher und schöner Leidenschaft seine Vision von einer publikumsnahen Bühnenkunst vorträgt.
Wobei die Kontroverse aktualisiert war. Hauptmann konnte
nicht ahnen, daß »Kartoffelsalat« einst zu einer ästhetischen Größe avancieren
würde. Nun sind solche Akzentverschiebungen legitim. Schade nur, daß dadurch
die Konfrontation zwischen Spitta und Hassenreuter, die bei Hauptmann auch eine
politische ist, bei Regisseur Uwe Eric Laufenberg zu einer rein künstlerischen
reduziert scheint. Wenn Hassenreuter - Manfred Karge als opulent
selbstgerechter und -zufriedener Theaterpatriarch - den Spitta eine »Ratte«
nennt, die anfängt, »unser herrliches neues geeinigtes Deutsches Reich zu
unterminieren«, sollte das gerade heutzutage gut vernehmbar ausgesprochen
werden.
Bekanntlich hat ein Politiker jüngst einen aktuellen
Kommentar geliefert. Klaus Landowsky, der Frontmann der Berliner CDU, sprach
davon, »daß dort, wo Müll ist, Ratten sind, und daß dort, wo Verwahrlosung
herrscht, Gesindel ist. Das muß in der Stadt beseitigt werden!« So unverfroren
leben in Berlin über Dezennien reaktionäre Geisteshaltungen fort. Immerhin
schrieb Hauptmann seine »Ratten« 1910.
Grund also durchaus, die Tragikomödie in den Spielplan zu
nehmen und von Menschen zu erzählen, die irgendwo im Kiez einer Metropole wie
Berlin um ihr Leben kämpfen. Jede Figur ein Schicksal. Das schwangere polnische
Dienstmädchen Pauline Piperkarcka (Karina Fallenstein), das sitzen gelassen
worden ist und sich im Landwehrkanal ertränken will. Die zerrüttete, von
besseren Tagen träumende Nachbarin Sidonie Knobbe (Monika Lennartz). Der sozial
entwurzelte Bruno Mechelke (Tilo Werner). Der treu und bieder amtierende
Schutzmann (Wolfgang Hosfeld). Der herumschnüffelnde Hausmeister Quaquaro
(Eckhart Strehle). Die buhlende Künstlerin Alice Rütterbusch (Susanne Böwe).
Die verliebte Walburga, Hassenreuters Tochter (Bettina Lohmeyer). Die vornehme
Frau Theaterdirektor (Ursula Werner). Das tapfere, frühreife Kind Selma (Lydia Schönfeld).
Menschen und ihr Milieu. Uwe Eric Laufenberg hat beides
mit erfreulich sicherer Hand getroffen, auch Komik und Tragik gut ausgewogen.
Vielleicht ist die adrette Wohnung des Maurerpoliers Paul John (Bühnenbild
Christoph Schubiger) nicht so echt der große, nüchterne und etwas marode Raum
einer ehemaligen Kavalleriekaserne, hinter deren Wänden John Ratten weiß. Das
alte Mietshaus, bei Hauptmann durchaus auch Symbol für den brüchigen Staat,
steht hier für sich. Andererseits
versucht Laufenberg im Verlaufe des Spiels mit Einsatz der Drehbühne eine
szenische Verknüpfung von Johns Wohnung und Hassenreuters Dachgeschoß, also dem
Milieu zu entfliehen und ins Symbol zu gehen. Das bringt deutlicher als in naturalistischer
Fassung eine Ahnung vom alltäglichen Irrsinn auf die Bühne, dem Menschen in
einer Großstadt ausgeliefert sind.
Frau John insbesondere steht dafür. Um ihren Mann, der
gern in Hamburg malocht und liebt, wieder fester an sich zu binden, kämpft sie
wie eine Löwin um der Piperkarcka Kind. Katharina Thalbach zeigt alle Facetten
ihres reifen Könnens. Ihre John, eine kleine, umtriebige, energievolle und vor
allem schnodderige Berlinerin, ist von ungestüm aufbrechender, wild aggressiver
Leidenschaft. Eben noch hätschelt sie ihren Bruder Bruno mütterlich, schon
raunzt sie ihn an. Eben noch tut sie freundlich zu Pauline, schon tritt sie sie
fast zusammen. In ihrer Not, als ihr Betrug an den Tag kommt, als sie krank ist
vor Angst, hofft sie auf Paul, ihren Mann. Doch der - bei Klaus Manchen ein
rechtschaffen geradliniger lieber Deutscher, flott mit der Waffe zur Hand -
läßt sie im Stich.
So endet tragisch, was sich richten ließe. Allein
gelassen das Baby. Ein Sozialfall mehr. Lang anhaltender, sehr herzlicher
Beifall.
Neues
Deutschland, 2. Mai 1997