„Die Ratten“ von Gerhart Hauptmann am
Schiller-Theater Berlin, Regie Alfred Kirchner
Lange Gänge erwiesen sich als Umwege
Man staune, 1911 zur Uraufführung am Berliner
Lessing-Theater ist Gerhart Hauptmanns Berliner Tragikomödie „Die Ratten"
durchgefallen. 1916, unter der Direktion Max Bernhardts an der Volksbühne,
konnte Felix Hollaender das Stück durchsetzen. Seither ist es immer wieder eine
Herausforderung gewesen. Es braucht das muffige Mietskasernen-Milieu auf der
Bühne, es braucht vor allem den realistischen Regisseur.
Alfred Kirchner, der das Stück jetzt am Schiller-Theater herausbrachte, hat sich von Vincent Callara ein Bühnenbild zimmern lassen, das ihm den wirklichkeitsnahen Zugang erschwerte. Callara wollte offenbar den psychologischen Realisten Hauptmann nicht wahrhaben, schon gar nicht den Naturalisten. Er suchte den Symbolisten. Quergestellt an der Rampe links, wie eine Klammer zwischen Bühne und Zuschauerraum, klotzt ein riesiger Wohnzimmerschrank, aufklappbar wie ein Altar. In ihm wird Frau John vergeblich Schutz suchen, wenn sie überführt ist. Ansonsten lastende dicke Balken bei Hassenreuters Dachboden mit sich im Dunkel verlierendem Hintergrund. Und zu weitläufig dann Maurerpolier Johns Wohnung mit imaginären schwarzen Öffnungen nach hinten.
So muß der Regisseur seine Darsteller
viele und lange Gänge machen lassen, die nichts erzählen, außer, daß der
Spielraum zu groß geraten ist. Einmal torkelt die Morphinistin Sidonie Knobbe
(Katja Riemann) geradezu fatal darin herum. Die Arrangements mißlingen fast
durchweg.
Kirchners Stärke hier sind die zahlreichen
Duo-Szenen. Da findet er zu Konzentration und Intensität. Zwar hebt die
Geschichte zunächst ziemlich statuarisch an, wenn die mit dem Rücken zum
Publikum sitzende Frau John die schwangere, steif und aufrecht stehende Pauline
Piperkarcka zu beeinflussen sucht. Doch die Schauspielerinnen finden handelnd
zu gestisch beredtem Spiel.
Gunda Aurichs Pauline ist ein hochaufgeschossenes
zähes junges Weib, das resolut um das Kind kämpft, das ihr Frau John genommen
hat. Angelica Domröses Mutter John ist schlank, katzenhaft weich und elegant in
den Bewegungen. Die brutalen Ausbrüche gegen Pauline traut man dieser sensiblen
Jette gar nicht zu. Die Domröse gibt das zunehmend Wunderliche der John, führt
die auf das Kind versessene Frau aber immer wieder in die Bewußtheit zurück.
Der rauhe Ton ist stets von genauer, tief berührender Wahrhaftigkeit. Vor allem
im Ehestreit mit Paul.
Den gibt Guntbert Warns als rechtschaffenen
Arbeiter, der seine Gemütlichkeit liebt und auch sein Weib, der aber seinen
bösen und berechtigten Groll hat gegen Bruno, Jettes Bruder (Wolfgang Pregler).
Und der, ganz eine bieder-treue deutsche Natur, sein Weib bedenkenlos
fallenläßt, als er erfährt, wie er zu seinem Kind gekommen ist. Dieser Mann
fragt nicht nach Beweggründen, der hat plötzlich keine Seele mehr, der funktioniert
wie aufgezogen, blindwütig im Sinne des herrschenden Rechts. Das ist bedrückend.
Hier hat die Aufführung ihren emotionalen Höhepunkt. Die junge Susanna Simon
als Selma Knobbe kann die Spannung halten, wenn sie unmittelbar danach auftreten
und Jettes Tod berichten muß.
Auch die Szenen mit Hassenreuters
Tochter Walburga (Christina Graefe) und dem Pastorensohn überzeugen. Peter
Matic gibt diesen Erich Spitta liebenswert, die leise Verspielt- und
Verträumtheit jener jungen ausbrechenden Intellektuellen, die ein stock-konservatives
Elternhaus verlassen und prompt heimatlos sind. Im übrigen rebelliert Spitta
tapfer gegen die Schillerisch-Goethisch-Weimarische Unnatur, welche Erich Schellow
als ehemaliger Theaterdirektor und nunmehriger Schauspiellehrer Hassenreuter
zwar etwas trocken, aber gebärdenfreudig vertritt.
Der Weg zum Menschen auf der Bühne,
heutzutage nicht von klassizistischer Unnatur verstellt, sondern oft von modischen,
effekthaschenden Abstraktionen oder selbstverliebten Verspieltheiten, führt
noch immer über Gerhart Hauptmann. Zumal die sozialen Daten, die er
verarbeitete, auch am Ende des Jahrhunderts erstaunlich gültig sind. Insofern
ist diese, wenn auch im Tragikomischen gelegentlich unsichere Aufführung, sehr
wohl zu begrüßen.
Neues
Deutschland, 20. Dezember 1991