„Die Räuber“ von Friedrich Schiller am Bayerischen Staatsschauspiel München, Regie Andras Fricsay und Kali Son

 

 

 

 

Sturm und Drang als Horrorvision

 

Auf dem deutschen Theater hat Friedrich Schiller, so scheint es, heutzutage keine Chance. Die Berliner Volksbühne bot die „Räuber" jüngst als Hanswurstiade an. Das Bayerische Staatsschauspiel München präsentierte sie jetzt — am gleichen Ort gastspielend — als hysterische Haupt- und Staatsaktion.

In einer Zeit, in der die Nation nicht mehr nur als Fiktion behauptet wird, sondern als Realität neu ins Leben tritt und allerorten von den intim Beteiligten begeistert begrüßt wird, reagiert das Theater ausgesprochen abwartend. Keinerlei Euphorie jedenfalls im Umgang mit einem Nationalautor.

Dem Karl Moor (Daniel Friedrich) des Prinzregententheaters kommen Tränen der Rührung, wenn seine Mannen „Am Brunnen vor dem Tore" singen. Er stellt sich den Behörden nicht. Er bringt Harmonie in die Welt, indem er — in einer minutiös perfekten Pantomime — seine treue Räuberbande gnadenlos killt und dann die Maschinenpistole ins Publikum richtet, etwas hochgezogen, dorthin, wo die Ränge sind. Schiller hatte sich das ganz zweifellos so nicht gedacht.

Man verzeihe mir meine Rückerinnerung an den Dichter. Wie die Version der Regisseure Andras Fricsay und Kali Son letztlich zu deuten sei, ist selbstverständlich jedem Zuschauer vorbehalten. Da der Münchner Karl, der vorher seine Amalia (Esther Hausmann) erstochen hat, selbst offenbar zu überleben gedenkt, könnte die Regie — so ich mich da noch einmal einmischen darf — die Ankunft eines schlimmen Tyrannen signalisieren wollen.

Aber wozu sich im Theater noch einen Kopf machen? Schlüssige Fabel wird ja ohnehin nicht mehr so gern erzählt. Obwohl die Regisseure, das sei festgehalten, die Entscheidungspunkte des Karl — hin zur Bande, weg von der Bande — kräftig ausspielen lassen.

Die Aufführung sucht im übrigen Wirkung mit permanent theaterndem Aktionismus. Abstruse Handgreiflichkeiten sind ihr Markenzeichen. Fortwährend kracht und poltert es. Eben so richtig räubermäßig. Aber die Banditen und ihre Bräute (!) gehen sich nicht nur andauernd an die Wäsche. Sie rennen und rammen wie eingesperrte Raubtiere konvulsiv mit ihren Körpern, auch Köpfen, gegen die Stahlwände ihrer Feste (Bühnenbild: Jörge Vilarreal).

Da anfangs per Bildschirm kurz von Goebbels und vom Glauben an den Endsieg die Rede ist, hatte man vermutet, einen Fingerzeig zur Zeit bekommen zu haben. Aber — zeigt sich — diese brüllende und tobende Horde ist zeitlos. Sie scheint irgendwie der asoziale Auswurf aller Zeiten — und Karl hat guten Grund, sie am Ende zu liquidieren?

Auch Franz ist natürlich keinerlei Hoffnung für die Menschheit. Das wußte man und wird einem neu bestätigt. Der intellektuelle Terrorist (Rufus Beck) ist hier distanziert ganz und gar ins historische Wams gesteckt und mit gestylter Perücke verziert, was ihn nicht hindert, seine losen Reden sehr direkt ans Publikum zu halten. Wo sie viel Beifall finden. Immerhin schwafelt Franz philosophisch-kritisch von verwerflichem Rauswurf alter sozialen Normen und davon, daß das Recht beim Überwältiger wohne.

Spiegelberg (Georg Weber) hat gleich anfangs ob räuberischer Raserei einen epileptischen Anfall. Aber das gibt sich. Übrig bleibt ein eitler Laffe, der von Schweizer (gespielt von einer Frau: Gabriele Köstler) viehisch umgebracht wird. Maximilian, Graf von Moor (Karlheinz Vietsch), im Rollstuhl kutschiert, hängt am Tropf. Das scheint sein Verderben zu sein. Jedenfalls kommt er abhanden. Niemand rettet ihn aus dem Turm.

Kurzum: Theater als ästhetisches Konglomerat. Oder: Sturm und Drang als Horrorvision.

 

 

Neues Deutschland, 9. Oktober 1990