„Quai West“ von Bernard-Maria Koltès
an der Volksbühne Berlin, Regie Gert Hof
Wo die Zukunft wie ein Feind lauert
Jeder verreckt für sich allein. Am „Quai West" - Bernard-Marie Koltes' Symbol für die menschenverschleißende, kalte Welt. Der 1948 in Metz geborene, viel- und weitgereiste, 1989 in Paris an AIDS verstorbene Dramatiker kannte sich aus bei den Armen, den Gestrauchelten, den Hoffnungslosen der Geldgesellschaft. Mit „Quai West" widmete er ihnen ein sinnbildliches Trauerspiel.
Koltes' poetisierender Naturalismus
hatte mit seinem letzten Werk, mit „Roberto Zucco", der Sozialtragödie
eines Verbrechers, einen Höhepunkt gefunden. Peter Stein brachte das Stück 1990
an der Berliner Schaubühne in einer faszinierenden, das satte Publikum schockierenden
Inszenierung heraus. Jetzt hat Gert Hof an der Volksbühne am
Rosa-Luxemburg-Platz höchstrespektabel mit Akribie „Quai West" in Szene
gesetzt.
Ihm montierte Jochen Finke eine
imposante, verrottende Lagerhalle in die Diagonale der Bühne, den Orchestergraben
in ganzer Tiefe und Breite nutzend, so einen Kai assoziierend. In dieser
Szenerie, Wirklichkeit und Symbol gleicherweise bedienend, begibt sich das
Drama Rudolfes (Jürgen Rothert grantig und grimmig) und seiner Familie.
Irgendwann ist sie aus dem großen Kolonialreich, aus einem in der Erinnerung
der Mutter sauberen Land, hoffnungsvoll hergekommen nach Frankreich in die
Hafenstadt. Und vermochte nicht Fuß zu fassen. Cecile, die Mutter (Hannelore
Koch mit fast pathetischer Würde), hat sich schließlich auf der Straße
verkauft, um die Familie über Wasser zu halten. Jetzt beginnt Tochter Claire
herumzustreunen. Aber noch bewacht von Charles, ihrem Bruder, besonders
gegenüber Fak, der hinter ihr her ist.
In dunkler Nacht, so beginnt das Debakel,
irrt der Bankrotteur Maurice Koch (Florian Martens) in der tristen Hafengegend
herum. Nicht zufällig, wie sich zeigt. Er will sein Leben enden. An seine
Fersen aber hat sich Monique Pons (Marie Gruber) geheftet, um herauszufinden,
ob er die sieben Millionen, die ihm angeblich abhanden gekommen sind, nicht
vielleicht irgendwo deponiert hat.
Diese zwei Bürger gehobenen Standes geraten
in die Fänge der Ansässigen, der Hyänen vom Kai. Die handeln wie Chaoten,
ziellos, aber honorig. Zumindest zunächst. Den Jaguar, mit dem die Reichen
gekommen sind, demontieren sie. Den desolaten Maurice, der sich in das
schmutzige Brackwasser gestürzt hat, zieht der stumme Mulatte (Magne Hovard
Brekke) heraus. Mit gebrochenem Fuß ist der Herr Koch nun ein menschliches
Wrack, welches Monique ziemlich cool und egoistisch in der Gegend herumzerrt.
An die Logik der nächtlichen
Ereignisse sollte man keine allzu gründlichen Fragen stellen. Gemeint ist
Symbolik! Gemeint ist, denke ich, der Schlammpfuhl Kapitalgesellschaft, in dem
jeder des anderen Konkurrent ist und elend und einsam umkommt, wer nicht wie
ein Raubtier ums Überleben kämpft. Wenngleich der schließliche Tod von Maurice,
von Cecile, von Ciaire und von Charles ursächlich nur vermittelt, nur indirekt
mit dieser Maxime zusammenhängt.
Im übrigen hat das Stück - bearbeitet
von Heiner Müller, mit Klangstrukturen unterlegt von der Formation
„Einstürzende Neubauten" - bemerkenswerte Szenen. Etwa wie dieser Fak (in
Herbert Sands sensitiver Darstellung) in einer Mischung von Brutalität und Zärtlichkeit
um die Gunst der jungen Claire buhlt. Und wie dieses Mädchen, schwankend
zwischen Abneigung und Neugier, schließlich nächtlicher Begegnung zustimmt.
Obwohl sie weiß, daß ihr Bruder sie für einen Autoschlüssel „freigegeben"
hat. Silke Matthias prägt sich ein. Wie sie die Aufmüpfigkeit spielt, die
Sehnsucht nach Liebe, die tiefe Enttäuschung dann nach der ersten Erfahrung.
Und Uwe Steinbruch fällt auf als Charles, als kraftprotziger junger Mann, der
keine Träume mehr hat, es sei denn den, als dummer Bengel eines Bankiers
geboren worden zu sein. Damit die Zukunft nicht wie ein Feind lauert.
Gert Hof hat Biografien inszeniert,
Schicksale. Glaubwürdig, überzeugend in Gestik und Ton. Aber zu ausführlich,
letztlich zu ausführlich. Wohl deshalb der nur knappe Beifall.
Neues
Deutschland, 3. April 1992