„Herr Puntila und sein Knecht Matti“ von
Bertolt Brecht am Berliner Ensemble, Regie Einar Schleef
Entseelter Dichter
Ein Weib (Jutta Hoffmann) sitzt versteinert
vorm Eisernen Vorhang und vorm holzverkleideten Portal. Dann berichtet es
sinnfällig und nicht ohne Stolz über den Sohn in einem Gefangenenlager. So das
Vorspiel. Einar Schleefs viereinhalbstündige Inszenierung des Brechtschen
„Puntila" am Berliner Ensemble prägt bizarre Bilder ins Gedächtnis.
Aus der ersten Abteilung: Etwa zwei Dutzend
Gestalten, an einer großen runden Tafel plaziert, mehrfach chorisch brüllend.
Ein autoritärer Herr tief im Hintergrund, bekleidet mit Frack und weißer
Fliege. Auch er schreit laut.
Aus der zweiten Abteilung: Der Herr im Frack
als Dompteur in der Mitte der Bühne. Um ihn barfüßig im Kreise rennend Männlein
und Weiblein in ausgedienten Militärmänteln. Matti disputiert in neunfacher
Ausfertigung mit Eva. Sieben Mattis springen in die Badestube. Frauen und
Männer, aufgereiht im Hintergrund sitzend, trinken weihevoll aus einer
Schüssel. Puntila küßt seine Tochter im Hochzeitskleid. Etwa ein Dutzend nackte
Mattis vergewaltigen Eva und fallen danach berauscht übereinander her. Neun
Ballerinen bieten ein Zwischenspiel. Streit zwischen Puntila und dem Attaché.
Puntilas zahlreiche Gäste hocken in der Sauna und liebkosen sich. Eva verkündet
glücklich, sie werde einen Knecht heiraten.
Aus der dritten Abteilung: Schwarz gekleidete
Herrschaften tanzen exaltiert. Eine Frau führt Klage, daß Puntila die ganze
Regierung beleidigt habe. Eva rutscht ihrem Vater vom Hatelmaberg auf die
Schulter. Er schleppt sie in den Hintergrund. Nackte Weiber und Männer rennen,
fallen und zucken kreuz und quer. Die Ballerinen und Herren in Militärmänteln
marschieren mit Äxten und leiten den Abschied ein.
Schon bald begreift der Zuschauer, daß
Brechts Figuren aus der konkreten Fabel gelöst, mehr oder weniger zerstört und
als Figurinen einfunktioniert sind in eine oratorische, meist martialisch gebrüllte
Agitprop- bzw. Nackt-Show, die zwar bestimmte Begebenheiten des Stückes
illustriert, aber weder dessen Poesie noch dessen Witz bedient. Der Dichter ist
gleichsam entseelt. Im Bemühen herauszufinden, wessen Geistes Kind solch
extraordinäres Theater fabriziert, fiel mir ein Interview in die Hände, das
Einar Schleef Anfang Januar dieses Jahres einer mitteldeutschen Zeitung gab.
Auf die Frage, wie es am BE weitergehe, antwortete er: „Ich fürchte, wenn die
Produktionen hier weiterhin so flau bleiben, ist das Ende angemeldet. .. Wir
haben ja an diesem Theater noch nicht einmal die Möglichkeit, Stücke richtig zu
besetzen. Das ist doch furchtbar. Wir haben einen einzigen Schauspieler, der
eine Hauptrolle übernehmen kann - und das bei 35 oder wer weiß wie vielen
künstlerisch Beschäftigten.. . Ja, das ist das Erbe des Brecht-Theaterspielens.
Nie wurde zugelassen, daß sich hier einer emanzipiert... Das Gespenst von
Brecht spürt man doch immer hier, es wird stets neu bestückt... Hier wurde
immer unter einem bestimmten Formen-Kanon gearbeitet. Er wurde nie erneuert.
Hier wurde über viele Jahre ein Flop nach dem anderen produziert... Von meiner
Arbeit sage ich: Es gibt kein Tief, ich habe immer ein Hoch..."
Welch strotzende Selbstgefälligkeit! Damit wird manches klar. Dieser
„gesegnete" Künstler hat, was die Arbeit betrifft, immer ein Hoch. Und von
dieser erhabenen Warte aus vertreibt er das Gespenst von Brecht aus dem Theater
am Schiffbauerdamm. Was soll ihm das klassische Volksstück! Was kümmert ihn,
daß da ein finnischer Gutsbesitzer, so er volltrunken ist, sein Herz für die
Menschen entdeckt, daß er aber von Zeit zu Zeit, nämlich nüchtern und
zurechnungsfähig, allen Ausbeutern Ehre macht. Den Regisseur interessiert das
vielleicht deklarativ, aber nicht szenisch. Bei ihm wird der Text nicht
schauspielerisch erschlossen, sondern vor allem effektvoll chorisch gesprochen.
Wozu symbolische Bewegungs-Zeremonien arrangiert sind, mit denen Assoziationen
ausgelöst werden sollen. Etwa die vom ewig gefangenen, militarisierten Knecht.
Das Auffälligste jedoch: Der Abend scheint veranstaltet, damit Schleef,
der meist den Puntila schreit, als Maitre de plaisir im Mittelpunkt stehen
kann. Er hält sich anscheinend für den einzigen Schauspieler des BE. Aber er
irrt. Er ist kein Schauspieler. Er kann kaum differenziert leise sprechen. Er
kann lang anhaltend brutal brüllen. Das kann er. Und er kann stereotyp
grimassieren und gestikulieren. Mehr kann er nicht. Meist nimmt er die Haltung
eines Magiers ein. Wie als wolle er den Geist seines assoziativen Theaters
beschwören. Armseliger Personenkult eines maßlos egozentrischen Menschen.
Die gescholtenen Schauspieler: Jutta Hoffmann behauptet sich als
kapriziöse Eva. Ruth Glöss gibt eine aufmüpfige Dienerin, Götz Schulte einen
überkandidelten Attaché. Stefan Lisewski darf den Richter andeuten. Carmen-Maja
Antoni, Christine Gloger, Annemone Haase, Michael Gerber und Manuel Soubeyrand
versinken nicht ganz im Chorischen.
Den intelligenten, so unterhaltsamen wie lehrreichen Kampf zwischen
Herrn Puntila und Knecht Matti aber gibt es nicht. Wozu auch? Heutzutage ist
die Frage, ob man anständig ficken kann. Einar Schleef jedenfalls bewegt sie
sehr. Er wirft sie mehrfach mit stolzer Offenheit auf. Der PR-Effekt scheint
erreicht.
Neues
Deutschland, 19. Februar 1996