„Der neue Prozeß“ von Peter Weiss am Berliner
Ensemble, Regie Axel Richter
Aufschrei gegen imperialistische
Kriegstreiberei
Die Uraufführung seines Stückes „Der neue
Prozeß" hatte der Dichter noch selbst am Stockholmer „Dramaten" inszeniert.
Er hatte es Anfang 1981 nach Abschluß seiner Romantrilogie „Die Ästhetik des
Widerstands" in wenigen Wochen niedergeschrieben. Es blieb seine letzte
Arbeit: Er starb im Mai 1982. Mit der DDR-Erstaufführung am Berliner Ensemble
wird sein politisches Vermächtnis lebendige, mahnende Realität.
Peter
Weiss, der auch Maler, Grafiker, Filmemacher und Epiker war, griff vor allem als
Dramatiker ein in die Klassenkämpfe unserer Zeit. Wie einst Bertolt Brecht,
Johannes R. Becher oder Friedrich Wolf führte ihn das Erkennen imperialistischer
Ausbeutung und Aggressivität an die Seite der Arbeiterklasse zu humanistischer,
sozialistischer Parteilichkeit. Stücke wie „Die Ermittlung" (1965), „Der
Gesang vom lusitanischen Popanz" (1967) und „Viet-Nam Diskurs" (1968)
markieren den Weg, den er sich nie leicht machte.
Teil
dieses Weges ist seine Auseinandersetzung mit Franz Kafka. Dessen Vorahnungen
faschistischer Diktaturen, der Verabsolutierung imperialistischer
Staatsapparate, der Entfremdung des Menschen unter kapitalistischen
gesellschaftlichen Bedingungen provozierten Weiss zu Vergleichen mit den
spätbürgerlichen Verhältnissen der Gegenwart. Mit seinem Stück „Der
Prozeß", 1978 vom Volkstheater Rostock für die DDR erstaufgeführt, ist er
Kafkas gleichnamigem Roman aus dem Jahre 1914 verpflichtet, ihn getreu aufarbeitend
und zugleich entmystifizierend. Josef K, ein kleinbürgerlicher Opportunist,
scheitert mangels politischen Bewußtseins.
In „Der neue Prozeß" bedient sich Peter
Weiss wieder der Figur des Josef K, bringt sie aber in
Konflikt mit der Expansion einer kleinen Firma zum multinationalen,
weltbeherrschenden Superkonzern, dessen Repräsentanten aus Hochfinanz, Militär,
Politik und Justiz eiskalt den dritten Weltkrieg vorbereiten. Und Josef K,
lauterer Prokurist, manipulierter „mündiger Staatsbürger", wider Willen
zum Direktor aufgestiegen — weil die Firma jemand in der Leitung brauchte, den
kein Argwohn treffen, auf dessen Redlichkeit man sich berufen konnte —, Josef K
steigt aus. Er mag nicht mehr leben „mit den Leichen im Schrank" und „den
Schüssen draußen".
Beim Autor stirbt Josef K im Getümmel eines
Kampfes, in dem sich Menschen verschiedenster Schichten der Allmacht des
Konzerns widersetzen. Die Möglichkeit aktiven Verhaltens ist damit bei Weiss
angedeutet. In der Aufführung am Berliner Ensemble bleibt die Regie an diesem
Punkt hinter dem Dichter zurück. Hier stirbt Josef K im Bett, abgeschossen „wie
ein Hund".
Der Regisseur der Aufführung, Axel Richter,
das sei hier gesagt, bewältigt eine komplizierte Aufgabe insgesamt
beeindruckend. Nach erfolgreichen Inszenierungen in Karl-Marx-Stadt, auch in
Dresden, Annaberg und Schwerin, die auf ihn aufmerksam machten, war dies seine
erste Arbeit in Berlin. Zu fragen ist nur, weshalb er den Josef K so
privatisiert. Und warum er die Ausgebeuteten, bei Weiss drastisch vertreten
durch eine herumgestoßene, verelendete Familie — Ehepaar, Kinder, Angehörige —
auf eine einzige Frau reduziert. Er minimiert diese soziale Dimension.
Die Parabel handelt von der Hilflosigkeit und
Korrumpierbarkeit heutiger bürgerlicher Intellektueller, auch von der rücksichtslosen
Vermarktung der Kunst im bürgerlichen Kunstbetrieb und von der schier unaufhaltsamen
aggressiven Expansion multinationaler Konzerne — sie handelt aber eben auch von
der Verkündung aktiven Widerstandes der Volksmassen. Doch der „furchtbare
Schrei" Lenis, der ehemaligen Sekretärin des Josef K, die (bei Weiss) an
seiner Leiche die „geballten Hände" aufwirft, bleibt bei Richter aus. Und
damit ein Höhepunkt und eine Erschütterung, mit der dieses poetische Lehrstück
noch am Schluß ins Gefühl des Zuschauers stößt. Lenis Schrei ist auch der des
Dichters — keine Ohnmacht mit theatralisch geballten Fäusten, sondern der
gebündelte Protest all derer, die gegen imperialistische Kriegsvorbereitung aufstehen.
Der Regisseur arbeitete ansonsten kaum mit
Strichen. Sein Augenmerk galt der szenischen Atmosphäre, der sorgfältig dosierten
gegenseitigen Durchdringung von Realität und Irrealität, von Agitprop und
traumhafter Vision. Bühnenbildner Klaus Noack schuf einen praktikablen
Spielraum (Pensionszimmer und Büro in einem) mit Tür im Hintergrund in ein
helles Draußen. Mit dem Wachsen des Konzerns weitet sich zwar dieser Raum,
signalisiert aber stets ein Eingeschlossensein in gefahrvoller Wirklichkeit.
Die in dieser Szenerie spielenden Vorgänge haben etwas erregend Unwirkliches
und sind zugleich bestürzend alltäglich.
Der bemerkenswerte Vorzug der Inszenierung:
Sie trifft Ton und Mentalität des Stückes. Und sie nimmt hell ins Licht, was im
Ritual imperialistischer Machtmanipulation ein den Ausgebeuteten
undurchschaubares mystisches Dunkel erzeugen soll. Mit dem Regisseur schauen
wir von hier und heute darauf. Axel Richters Zeichnung der Vertreter imperialistischer
Macht ist von enthüllender Genauigkeit (ausgezeichnete Darstellerleistungen von
Arno Wyzniewski, Dieter Knaup, Michael Gerber, Peter Bause und Klaus Hecke).
Die tödlichen Gefahren, die von diesen Kräften ausgehen, bleiben spürbar, auch
wenn die Gestalten schon wie grotesk-komische Wachsfiguren eines historischen
Kabinetts wirken.
Angelika Waller spielt das Fräulein Bürstner,
Annemone Haase die Pensionswirtin Grubach, Simone Frost die Sekretärin Leni.
Das skurrile Fräulein Montag wird von Christine Gloger gegeben, Jaecki Schwarz
ist der aufsässige Maler Titorelli. Felicitas Ritsch die herumgestoßene Frau.
Hans-Joachim Frank als Josef K ist ein fleißiger, kunstsinniger junger Mann,
trotz Karriere immer der bescheidene, glücksuchende kleine Prokurist — kein Held,
gewiß, aber, sobald er erkennt und ausbricht, durchaus eine potentielle Kraft
für die Zukunft.
Neues
Deutschland, 22. November 1984