„Der Pol“ von Vladimir Naborkov in der Schaubühne Berlin,
Regie Klaus Michael Grüber
Letzte Stunden im Eis
Wenn Unsäglichkeiten menschlichen Handelns auf
dem Theater vorgestellt
werden, nennt man das: eine Tragödie spielen. Was freilich heutzutage klassisch
rein nicht mehr so recht funktioniert.
Vielleicht liegt es daran, daß die Zuschauer sich zu Hause per TV nach
Belieben die neuesten Greuel aus aller Welt reinziehen können, weshalb ihnen
dann der einsame Tragöde auf der Bühne eher
lächerlich vorkommt. Längst vermitteln daher clevere Leute vom Bau -
ausgestattet mit dem ästhetischen Rüstzeug Brechts und Müllers - mit der
Tragödie die Farce. Jeder heroische Held hat nämlich auch seine närrischen
Züge. Man muß sie nur zu erkennen vermögen.
Derlei
theatrales Splitting mag Regisseur Klaus
Michael Grüber offenbar nicht. An der Berliner Schaubühne brachte er
jetzt von Vladimir Nabokov (geb. 1899 in
St. Petersburg, gest. 1977 in Lausanne) einen Text, dem gewitzte Distanz gut getan
hätte, einfühlsam und bizarr romantisch verfremdend als melancholisches Dramolett. Dem Nabokov war das letztlich
sinnlose Sterben des kühnen englischen
Polarforschers Robert Falcon Scott ein dokumentarisches Drama in einem
Akt wert gewesen; den Machern der Schaubühne ist der vergessene Text – in einer Bearbeitung von Botho Strauß und mit Musik
von György Kurtág - die Uraufführung
wert.
Scott also! - Heroischer Forscherdrang! Und welch
närrische Unsäglichkeit zugleich!
Da brach er im November 1911 mit vier
Begleitern vom McMurdo-Sund zum
Südpol auf und erreichte ihn am 18. Januar
1912. Doch just vier Wochen vorher
hatte der Norweger Amundsen seine Flagge ins Ziel gesetzt. Auf dem Rückmarsch zum Sund kamen Scott und seine Begleiter
in einem Schneesturm um.
Mag
Scotts Tat als noch so ruhmvoll in die Geschichtsbücher aufgenommen worden sein
- erst einmal aufs Theater gebracht, wird sie zur Metapher, steht sie durchaus auch für Vergeblichkeit und Lächerlichkeit
menschlicher Anstrengung. Die prosaisch lapidaren Dialoge von
Nabokov/Strauß freilich verlangen nach naturaler Unmittelbarkeit, reizen kaum,
die verhungernden und delirierenden Männer
in der Eiswüste der Antarktis auch kritisch ins Bild zu setzen, ganz trocken mal zu fragen, welch waghalsiger
Einsatz des Lebens, wenn überhaupt, vielleicht Sinn macht auf dieser Erde. Regisseur Grüber jedenfalls identifizierte sich völlig, nahm nichts komisch, nicht einmal leise ironisch; weshalb wahrscheinlich
ihm für seine geradlinig agierenden Akteure
eine Woche vorm geplanten Premierentermin nichts mehr einfiel, und er die Proben beendete. Vorfristig werden bei ihm Captain Scotts letzte Stunden schlicht verklärt als weihevolle Andacht absolviert.
Eine Sängerin
(Anita Somlai), dezent am Portal, setzt innig gerührt ihre samtenen Töne in die
sphärisch schillernde antarktische Weite
(Bühnenbild Gilles Aillaud), wobei in der Ferne schön schemenhaft das
Schiff sichtbar wird, das Scott (Bruno Ganz) und seine Mannen - Fleming (André Wilms), Kingsley (Robert Hunger-Bühler), Johnson (Sven Walser) - nie mehr erreichen werden. Welch
feierliche Rührseligkeit! Zwecks anhaltend teilnahmsvoller
Erhebung werden noch weitere Musiker in die Eiswüste geschickt, gekleidet übrigens, wie mal eben schnell von einer
schnuckeligen Bar nebenan zu einer Mugge geeilt.
Der Schneesturm, der große Schuldige,
der
verheerende Töter, der bei Grüber nie heult,
nicht einmal dramatisch hinein in
die Klänge der Violinen oder der Trompete,
der Sturm also, den man als tobend an
einem kleinen Windrad erkennen soll, er ebbt ab, er legt sich - und
trotzdem dies traurige Finale! So sinnleer eben kann menschliches Leben enden.
Grübers romantischer Realismus ist beredt denn
doch.
Neues Deutschland,
1. Oktober 1996