Spielpausengedanken 1989/90

 

 

 

 

Plebejisches oder bürgerliches Theater, das ist nun die Frage

 

Die Saison 1989/90 war unwiderruflich die letzte Spielzeit eines in der DDR beheimateten Theaters. Relativ fest am politischen Gängelband einer im Dogma erstarrten Partei, ziemlich gut subventioniert von einem antikapitalistischen Staat und wohl ausgerüstet mit Brechts dialektischem Weltverständnis, war es ein Theater öffentlicher Affirmation und heimlicher Widerrede.

Die Künstler hegten, ermutigt durch die Erfahrungen des antifaschistischen Aufbruchs nach dem Kriege, die zunächst durchaus begründete Hoffnung, zu revolutionären sozialistischen Veränderungen beitragen zu können. Ihr kritisches Engagement — von Bertolt Brecht, Wolfgang Langhoff und Wolfgang Heinz bis zu den Akteuren in der tiefsten Provinz: — war jederzeit integer. Dazu gehörte a priori der erklärte Affront gegen Mängel der neuen Gesellschaft, die anfangs noch als Kinderkrankheiten heilbar schienen.

Dies deutsche Theater, artifiziell versiert, hatte uneingeschränkt, zuweilen verfremdet, die Humanisierung des Menschen zum Ziel. Das verschaffte ihm bleibend international Respekt und hohe Anerkennung. Schließlich und endlich war es immer verzweifelter und direkter eine Absage an Illusionen. Christoph Heins „Ritter der Tafelrunde" in der Kirst-Uraufführung am Staatsschauspiel Dresden im Mai 1989 war ein allerletzter Aufschrei, so moderat ihn die Kritik kommentieren mußte.

Die schöne Vision vom freien Menschen auf freiem Grund, scheinbar schon greifbar realisiert, auf der Bühne zunehmend in Frage gestellt, erwies sich im Leben in der Tat als eine nach wie vor ferne Utopie. In Bastschuhen zum Sozialismus — selbst mit heroischen Anstrengungen, zeigte sich, lassen sich ökonomische Gesetze auf die Dauer nicht ignorieren. Der weit gediehene praktische Versuch des 20. Jahrhunderts, mehr zu erreichen als die Pariser Kommunarden, scheitert tragisch. Noch ist die historische Ungeheuerlichkeit im Gange. Und Stalinismus ist kein Schlüsselwort, mit dem alles erklärt ist.

Trotz alledem: Wenn sich die Menschheit im kommenden Jahrtausend nicht selbst vernichtet, ist der Geschichte letztes Machtwort nicht gesprochen. Und so unergründlich verschlungen und widersprüchlich sie auch fernerhin verlaufen wird: Der Völker Friede sowie sozialer und ökologischer Fortschritt für gleichberechtigt alle Menschen dieses Erdballs bleiben brisant aktuelle Themen. Auch für das Theater.

Für die Bühnen dieses Teils Deutschlands allerdings geht es vorerst ums nackte Überleben. Fest steht, daß ohne Subventionen nicht auszukommen ist und daß die bundesdeutsche Elle angelegt werden wird. Nach deren Maßgabe sind nicht Bonn oder Berlin für die Kulturhoheit zuständig, sondern die Kommunen und die Länder. Also auch Behörden, die frühestens ab Spätherbst 1990 arbeiten können. Dann werden zwar unerfahrene, aber hoffentlich kunstsinnige Bürger das Sagen haben. Doch ihre Kassen werden leer sein. Und Bonn, bislang nicht zuständig für die Kultur und darob im ständigen Clinch mit den bisherigen Bundesländern, wird trotz anhaltender Hochkonjunktur und stillschweigend weitgehender Vereinnahmung der DDR-Wirtschaft für wahrheitsliebende Kunst in den neuen Bundesländern weniger denn je irgendein Geldsäckel aufmachen wollen.

Die Theaterleute zwischen Brocken und Neiße sehen sich in neuer Zwickmühle. Bis November 1989 haben sie ihre Kunst immer unverhohlener und hartnäckiger gegen eine versteinerte Staatsgerontokratie zu einem Hoffnungsträger für ihre Zuschauer gemacht. Sie waren geistige Wegbereiter der Wende. Und als das Honecker-Regime Risse zeigte und Glasnost und Perestroika verboten wurden, sind sie mit dem Volk auf die Straße gegangen im Versuch, das Gemeinwesen vom tyrannischen Übel zu befreien. Noch schien das Experiment, das den Namen Sozialismus für sich beanspruchte, eine Chance zu haben.

Doch einmal ausgelöste gesellschaftliche Umwälzungen, an denen in unseren Zeiten immer auch Geheimdienste teilnehmen, haben ihre unerbittlich eigenen Gesetze. Völkerrechtlich ausländisches, aber eben deutsches Kapital - in Gestalt seiner Politiker sogar ganz offen - mischte sich auf geschichtsbeispiellose Weise ein. Es offerierte die monopolprofitable 2-Drittel-Gesellschaft als soziale Errungenschaft. Und Volkes Wille fegte per Wahlmehrheit den Sozialismus von der Tagesordnung und das Potsdamer Abkommen endgültig in die Archive. So wurde die Rückkehr zum großkapitalistischen Deutschland legitimiert und besiegelt.

Und die Theaterleute? Da muß man nicht spekulieren. Sie begrüßen selbstverständlich die gewonnenen bürgerlichen Freiheiten. Sie hoffen aufrichtig auf deren uneingeschränkte Gültigkeit. Sie werden nämlich darauf angewiesen sein. Zumindest, wenn sie auch künftig an den Lebensproblemen ihres Publikums nicht vorbeispielen wollen. Derzeit wird unübersehbar Massenarbeitslosigkeit Realität. Das heißt, die Theaterkünstler dürften schon bald für ihre westeuropäischen Kollegen zwar alte, für sie aber neue Fragen haben, je nach Temperament und Stehvermögen in der Weltdramatik nach Antworten suchen, früher oder später fündig und also erneut unbequem werden. Dafür soll Bonn Geld berappen ?

Illusionen empfehlen sich nicht. Die Freiheit hat ihre Preise. Der Platz des Theaters in der kapitalistischen Gesellschaft ist peripher. Die Situation wird sich einpendeln auf die bundesdeutsche Norm. Das heißt, die Kommunen entscheiden, ob sie Theater brauchen oder ob es sie stört.

Daher wird ein großes Taktieren anheben. Alle diejenigen, die mit dem DDR-Theater nichts im Sinn haben, werden Schützenhilfe bekommen. Einigen Großkopfeten der BRD-Medien wird es ohnehin darauf ankommen, die internationale Bedeutung dieses Theaters herabzumindern, ja in Frage zu stellen. Zur Zeit attackieren sie die DDR-Schriftsteller. Das wird ihnen schwerlich genügen. Das früher oder später gesamtdeutsch gleichgeschaltete Fernsehen beispielsweise wird alle irgendwie links anmutenden Regungen monieren, wenn nicht gar diffamieren. Der jüngste ARD-Report über Walter Jens läßt die zu erwartende „freiheitliche“ Gangart erkennen. Mit ihr wird man niederzutreten versuchen, was selbstbewußt plebejische Sicht behauptet.

Die Theatermacher, im Taktieren zwar ebenfalls geübt, werden kaum dagegenhalten können. Ihr Bewegungsraum ist eng. Sie müssen sich wohl oder übel mit den jeweiligen örtlichen Geldgebern arrangieren. Und die wiederum könnten sich, je nach Wahlergebnis, aufmüpfig erscheinende realistische Theaterkunst vom Leibe halten wollen. Massenarbeitslosigkeit dürfte kein gern gesehenes Thema sein. An der seit acht Jahren flauen Reaktion der bundesdeutschen Bühnen auf rund zwei Millionen BRD-Arbeitslose (zugegeben: ein ästhetisch nicht eben verlockender Gegenstand!) läßt sich ablesen, wie die reale Geschäftslage ist... Auf alle Fälle bleibt abzuwarten, ob mit Subventionen politische Auflagen verbunden sein werden.

Der Grad von demokratischer Öffentlichkeit, den sich die Theater hierzulande seit Herbst 1989 erstritten haben, sollte sich bewahren lassen. Einer neuerlichen Zensur werden sich die Künstler wahrscheinlich so schnell nicht beugen. Potentieller Verbündeter, zwar nicht in seiner Mehrheit, ist das Publikum, selbst wenn zunächst und unverständlicherweise viele Zuschauer den Waren-Konsum der Kunst-Rezeption vorziehen werden. Jedes Ensemble, ob in einer neuen Landeshauptstadt, in „tiefer Provinz" oder in Berlin, wird bei anhaltenden Turbulenzen im Zuschauer-Interesse herausfinden müssen, ob es auch weiterhin vor allem ästhetischer und damit politischer öffentlicher Anwalt seines konkreten Publikums sein will. Plebejisches oder bürgerliches Theater — das ist nun die Frage. In der Tendenz, versteht sich, denn dazwischen werden hoffentlich viele Spielräume sein und Plätze für künstlerische Experimente, die wir im Moment noch gar nicht auszumachen vermögen.

Ob mit Theaterkunst Realität verändert oder lediglich reflektiert werden kann, der Streit scheint vorerst — obwohl unsere jüngste Geschichte dagegen spricht — zugunsten derer entschieden, die eher skeptisch sind und der Wirkkraft von Schauspielkunst nur sehr kurzzeitige Impulse zubilligen. Steter Tropfen, heißt es immerhin, höhlt den Stein. Und wie philosophiert Shakespeares Narr in „Was ihr wollt"? Denn der Regen, sagt er, der regnet jeglichen Tag. Und er fällt von oben nach unten, wußte Brecht.

 

 

Neues Deutschland, 7. August 1990