„Platonow“ von Anton Tschechow am Maxim Gorki Theater Berlin, Regie Thomas Langhoff

 

 

 

Das schlimme Ende eines verhinderten Don Juan

 

Anton Tschechows erstes, 1923 aus dem Nachlaß veröffentlichtes Theaterstück kam jetzt in der Regie von Thomas Langhoff am Maxim Gorki Theater in Berlin zur DDR-Erstaufführung. „Platonow" ist zwischen 1877 und 1884 geschrieben worden. Ein Wurf aus der Sturm-und-Drang-Phase eines begnadeten dramatischen Talents. Mit den ersten Sätzen bereits artikuliert Tschechow seine Grundthemen. Widrige soziale Umstände. Gutsbesitzer, Kaufleute -überflüssig werdende Klassen. Langeweile. Sehnsucht. Dagegen setzt er — kräftiger als dann in seinen späteren Stücken — die aktive Liebe von vier Frauen. Das Objekt ihrer Leidenschaft freilich, Platonow, ist zu tiefer, anhaltender Liebe nicht fähig.

Platonow — ist das eine Art poetischer Kommentar Tschechows zu Gontscharows Romanhelden Oblomow, dem klassischen Faulpelz, Prototyp des Überflüssigen aus der russischen Adelsklasse? Immerhin versucht Platonow sich als Dorfschullehrer, polemisiert im „Salon" der Anna Petrowna Wojnizewa beherzt gegen Stagnation und soziale Rückständigkeit, Doch im Grunde ist er harmlos. Die Herrschaften wissen und dulden das, sehen in ihm eine amüsante Abwechslung. Und zugleich erweckt er — tragikomisch das — Hoffnungen bei den Frauen, Erwartungen, die er nicht erfüllen kann.

Unverkennbar ist, des jungen Tschechows Sympathie gilt aktiven Frauen. Da ist Sascha, Platonows redliche, treuherzige, zwar tief in der Konvention befangene, aber konsequent handelnde, nämlich ihn verlassende Ehefrau; da sind Anna Wojnizewia, die emanzipiert-selbstbewußte Generalswitwe, und die blutjunge Grekowa, die sich zu ihren reinen ersten Liebe bekennt; schließlich Sofja, die aus enttäuschter Leidenschaft Platonows Mörderin wird.

Den Regungen und Empfindungen dieser Frauen wie aller seiner Gestalten ist der junge Dichter sehr gründlich nachgegangen. So hat er ein umfangreiches Manuskript hinterlassen. Striche sind unvermeidlich. Regisseur Thomas Langhoff wahrt die Stückstruktur, auch die Motivationen. Zwei Figuren fallen weg, Gutsbesitzer, mit denen Platonow disputiert. Vielleicht leidet darunter das Exponieren des Platonow als streitbarer Intellektueller. So mag die Frage aufkommen, warum die Frauen ausgerechnet diesem Mann verfallen, diesem verhinderten Don Juan eines entlegenen Dorfes irgendwo im russischen Süden. Zumal Klaus Manchen den Platonow gezielt mit wenig geistiger Schärfe gibt, die das eigentlich Verführerische an ihm sein könnte. Es ist nicht so sehr die sprühende, faszinierende Lust am Disput, eher eine nörgelnde allgemeine Unlust, die diesen Platonow treibt. Er leidet wirklich an sich selbst, an seiner Unentschiedenheit. Eine glänzende Darstellung.

Das Bühnenbild (Dieter Berge) ist mit einfachen, verkehrt eingesetzten Stellwänden bewußt antinaturalistisch gebaut. Der Salon mit rohem Bretterdach, ohne Türen, breitem Abgang nach hinten und stilisiertem Baumgrün im Hintergrund ist Voraussetzung und Möglichkeit für eine expressive, dynamische Spielweise, die sich Töne, Stimmungen gönnt, doch immer irgendwie kantig und spröde bleibt, sich nicht im Detail verzettelt, den psychologisch und gestisch präzisen Schauspieler braucht und freisetzt.

Hervorragend Ursula Werner als vitale Generalswitwe, Uwe Kockisch als flatterig-hektischer, infantiler Stiefsohn Sergej, Ruth Reinecke als hausfrauliche, zart-empfindsame Sascha, Jörg Gudzuhn als aggressiv-exaltierter Arzt Trilezkij, Swetlana Schönfeld als nervig-leidenschaftliche Sofja. Auch Jochen Thomas (Bugrow), Gerd-Michael Henneberg (Glagoljew), Wolf gang Hosfeld (dessen Sohn), Hansjürgen Hürrig (Ossip) und die Debütantin Franziska Ritter (Grekowa) prägen sich ein.

Erfreulich, daß Tschechow nicht als Naturalist gesehen wird. Aber er ist auch kein Vorläufer spätbürgerlichen Schocktheaters. Die Gestalt des toten Ossip, des Räubers und Messerstechers, den die Bauern erschlagen haben, halbnackt und über eine lange Dauer aufrecht vors Salonfenster in die Bäume zu deponieren, ist ein Lapsus, der eigentlich nicht zu Langhoff paßt. Soll die marode Tschechowsche Gutsbesitzergesellschaft als pervers empfunden werden? Daß ihr das Geschäft letztlich wichtiger ist als Freundschaft, steht beim Autor. Ihr zu unterstellen, daß sie Sofjas Mord vertuscht und als Selbstmord Platonows ausgibt, scheint möglich. Doch weiter geht der Autor nicht. Und Sofja nimmt ihre Koffer, verläßt ungebrochen den Ort ihrer Tat. Gibt ihr der Regisseur eine Perspektive? Fragen, die offen bleiben.

Dennoch: eine Inszenierung voller Kraft. Sie knüpft an die Tradition realistischer, elementarer Schauspielkunst an und führt sie weiter.

 

 

 

Neues Deutschland, 25. Mai 1984